Die Hueterin der Geheimnisse
plötzlich inne, mitten in der Luft, und schwebten wie Falken über einer Beute. Und wie Falken kreischend, stießen sie dann auch herab. Leof war nicht nah genug, um genau zu sehen, was sie entdeckt hatten. Sie befanden sich über einem kleinen, grasbewachsenen Hügel direkt vor dem nächsten Dorf - Bonhill, hieß es -, und als sie herabstießen, verschwanden sie hinter einem Hügel.
Er stieg ab und führte Arrow langsam weiter. Hoffentlich würden sie genug Zeit haben, sich ein wenig zu erholen, bevor die Windgeister wieder davonfegten. Dann kam er ihnen so nahe, dass er die Stimme eines Mannes hörte, der zu ihnen sprach. In diesem Moment begriff er, dass er den Zauberer gefunden hatte.
Saker
Rowans Lieder waren ganz genau gewesen. Saker war dem Musiker dankbar, der ihn all die alten Lieder gelehrt hatte, die Lieder über die Invasion, die davon berichteten, wie viele vom alten Blut an welchen Orten getötet und wo sie begraben worden waren. Er überlegte kurz, wo Rowan jetzt wohl gerade war, mit seiner Frau Swallow und Cedar, ihrem Trommler. Saker war monatelang mit ihnen auf Wanderschaft gewesen, um die Lieder zu erlernen, und das war die glücklichste Zeit seines Lebens gewesen.
Bis jetzt. Saker lächelte, während er den Erdboden umgrub und der Spaten Knochen ans Tageslicht beförderte. Als die Gräber ausgehoben worden waren, waren sie nicht tief gewesen, doch der Lauf der Jahrhunderte hatte sie mit einer Schicht Erde nach der anderen bedeckt. Saker hatte tief graben müssen. Diese Knochen waren nicht in einem so guten Zustand wie jene, die er zuvor gefunden hatte. Sie waren wesentlich dunkler und porös, zerbröckelten bei jeder Berührung. Es lag an der Feuchtigkeit. Wasser hatte die Knochen zerstört. Dieses Grab befand sich in einer Senke, in der sich seit zahllosen Jahren das Regenwasser gesammelt und dadurch auf dem ansonsten kargen Feld eine fruchtbare Stelle gebildet hatte. Gedüngt mit den Knochen seiner Vorfahren, dachte Saker, und bewässert durch die angenehmen Regenschauer ihrer Heimat.
Dies war die vierte Grabstätte, die er umgrub, seit er Carlion verlassen hatte, und mittlerweile war es fast schon Routine. Er sortierte den Knochenhaufen und nahm von jedem Skelett einen Fingerknochen. Manchmal war es schwer zu entscheiden, welche Knochen zu welchem Körper gehörten, und dann entnahm er zusätzliche, um sicherzugehen. Wenn er die Fingerknochen beisammen hatte, legte er sie auf ein Stofftuch und rief sie an, wobei er seine Litanei von Namen herunterrasselte. Wenn ihn jener innere Schauer erfasste, der ihm anzeigte, dass der Geist noch nicht zur Wiedergeburt geschritten war, legte er diesen Knochen in den Sack mit seiner Sammlung und notierte sich den Namen auf einer Schriftrolle. Mittlerweile hatte er es auf eine beträchtliche Sammlung von Namen gebracht. Wenn er sie durchlas, erwachte in ihm ein Gefühl des Triumphes, aber auch der Traurigkeit. So viele, bereit zum Kampf. So viele, die Actons Gier zum Opfer gefallen waren.
Er hatte fast zwei Drittel der Knochen aus dieser Grabstätte sortiert und ein weiteres Dutzend Namen erfasst, als er das Kreischen vernahm. Er erstarrte. Das Geräusch erinnerte ihn sofort an die schrecklichen Nächte mit Freite, der Zauberin, die ihn ausgebildet hatte. Windgeister. Er begann vor Angst zu zittern, als wäre er noch ein Kind.
Sie hatte die grauenhaften Geister dazu genutzt, um ihn einzuschüchtern und zum Gehorsam zu zwingen, hatte damit gedroht, ihn den Geistern bei lebendigem Leib zum Fraß vorzuwerfen oder Schlimmeres. Was das noch Schlimmere sein sollte, hatte sie nie gesagt, aber das war auch gar nicht nötig. Der Anblick ihrer langen, klauenförmigen Finger, ihrer scharfen Zähne und, am erschreckendsten von allem, ihrer gierigen Augen erfüllte ihn mit panischem Schrecken. Er hatte ihr seine Stärke zur Verfügung gestellt und nichts für sich behalten, nur damit er ihnen nicht ausgeliefert wurde.
Aus diesem Grund hatte sie noch viele Jahre länger gelebt. Erst viel später hatte er entdeckt, was sie mit seiner Kraft getan hatte.
Die Windgeister kamen über den Hügel und stürzten sich auf das Weideland herab, wobei sie schrien, triumphierend schrien. Bei Tageslicht hatte er sie früher nie gesehen. Sie waren kaum zu erkennen, bildeten eher die Andeutung einer Bewegung am Himmel wie ein Kräuseln auf einer Wasseroberfläche. Aber ihre rauen Stimmen schrien so schrill wie immer, und das Geräusch ließ ihn beben.
Er presste die Lippen
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