Die Hueterin der Geheimnisse
ein Geist einen Stich ins Herz verkraften und dennoch weiter kämpfen konnte.
Saker war erstaunt zu sehen, wie viele Menschen die Geister verschonten. Es musste am Wandererblut liegen, denn einen sichtbaren Unterschied gab es nicht - den einen streckten die Geister nieder, einen anderen schoben sie lediglich beiseite, einer Frau schlitzten sie die Kehle auf und verschonten ihre fast genauso aussehende Nachbarin.
Ganz gleich was die Bewohner von Carlion unternahmen, gegen diese Armee konnten sie nichts ausrichten.
Das einzige Haus, das unberührt blieb, war das eines Steinedeuters, vor dem ein großer roter Beutel hing und das, wie Sakers seherische Fähigkeiten ihm verrieten, an der Tür einen Bann gegen Geister aufwies. Dieses Problem war etwas, über das er nachdenken musste.
Er hatte genug gesehen. Er ging durch die Reihen der Sterbenden und der Toten, vorbei an Menschen, die sich hinter Karren verbargen, und an Kindern, die blutend auf dem Straßenpflaster lagen. Bald würde die Dämmerung einsetzen, und vermutlich würden die Geister dann verblassen. Er musste sich aus dem Staub machen, sobald dies geschah.
Als er wieder an der Begräbnisstätte stand und die vor ihm liegenden Knochen betrachtete, hatte er eine Idee. Owls Geist hatte er erweckt, indem er einfach nur seinen Schädel verwendet hatte. Er brauchte gar nicht von Stätte zu Stätte zu gehen, um die einheimischen Toten zu erwecken, um sie gegen die Lebenden aufzuhetzen. Er konnte die Toten mitnehmen. Ein Knochen, ein einziger Knochen von jedem Einzelnen, reichte aus. Wenn er Fingerknochen statt Schädel benutzte, konnte er in einem Sack eine ganze Armee mit sich tragen!
Hektisch sammelte er Fingerknochen ein und legte sie auf den Sack, den er zuvor um Owls Schädel geschlungen hatte. Er ließ seinen seherischen Fähigkeiten freien Lauf, um den Geist des Menschen zu spüren, dem der Knochen gehört hatte. Und sobald er jenes Kribbeln verspürte, das bedeutete, dass der Geist wandelte, legte er den Knochen auf den Stapel. Am Ende hatte er so viele Knochen, wie in seine kleinste Truhe passen würde. Er holte die Schriftrollen heraus, die er dort aufbewahrte, und legte sie in den Sack. Sie waren nicht so kostbar wie die Knochen.
Als sich die Sonne über den blutroten Horizont erhob, war Saker bereit, hatte das Pferd angeschirrt und die Zügel in der Hand. Er merkte, wie sich der Zauber auflöste und die Geister verblassten, und setzte sich in Bewegung. Hinter sich ließ er eine durchwühlte, mit Knochen übersäte Erde zurück.
Ash
Safred schenkte eine weitere Runde Tee aus, während Cael eine Lampe entzündete, wodurch die Schatten schärfer und die Dunkelheit hinter den Fenstern unheimlich wirkten. Safred schaute Ash an.
»Es wird noch mehr nötig sein. Sobald wir die Knochen haben«, sagte Safred, »müssen wir Actons Geist erwecken. Den Göttern zufolge musst du ihn durch Singen erwecken.«
Ash war zu Mute, als habe ihm jemand in den Magen geboxt. Er starrte nach unten auf die Tischplatte, die Hände verborgen, die Schultern angespannt und hochgezogen. War dies der Grund, weshalb er mit der Stimme der Toten singen konnte? Um Zaubersprüche der Wiederauferstehung zu singen? Es erschien auf erschreckende Weise logisch. Aber er konnte einen Geist nicht durch Singen erwecken.
»Ich wüsste nicht wie«, sagte er.
»Dann solltest du lieber jemanden aufsuchen, der es dir beibringt«, sagte Bramble. Er schaute sie scharf an und nickte dann kurz. Urplötzlich ergab vieles für ihn Sinn. Wenn es solche Lieder gab, wusste er, wo er sie lernen konnte. Es war sogar die richtige Jahreszeit dafür. Und natürlich hatten die Götter ihm deshalb aufgetragen, bis zum Frühjahr im Hidden Valley zu bleiben. Damit er direkt in die Tiefe gehen und dort Antworten auf seine Fragen bekam.
Zorn überwältigte ihn. Hier ging es um Singen . Um Lieder .
Er hätte all diese Lieder kennen müssen. Sein Vater hatte gesagt, er habe ihm alle Lieder beigebracht, die es gab. Ash hielt inne, und sein Zorn verrauchte. Ganz so hatte sich sein Vater doch nicht ausgedrückt. Er hatte gesagt: »Das ist das letzte Lied, das ich dir beibringen kann, mein Sohn.« Ash hatte einfach angenommen, dies bedeute, dass sein Vater keine anderen kannte. Er hatte nämlich auch gesagt: »Du musst alle Lieder in Erinnerung behalten.« Er konnte sich auch an alle erinnern, doch offenkundig waren ihm nicht alle anvertraut worden. Ihm war übel, und er war so wütend, dass er bereit war, sich
Weitere Kostenlose Bücher