Die Hueterin der Geheimnisse
während der Gebete. Mögen die Götter uns führen.«
Ash war es bei dieser Vorstellung ein wenig unbehaglich zu Mute. Er erinnerte sich an zwei schwarze Felsaltäre - der eine in Turvite, wo die Götter ihn gerufen hatten, der andere im Hidden Valley, wo sie ihn angewiesen hatten, zu dieser Zeit und an diesen Ort zu kommen. Vielleicht hatten sie es ja auch arrangiert, dass er Bramble das Leben rettete, indem er Sully, den Gefolgsmann des Kriegsherrn tötete. Beim Gedanken an Sully überfiel ihn bittere Reue. Er hatte nicht töten wollen, aber seine Ausbildung hatte ihn instinktiv handeln lassen. Er hatte nicht bleiben und dem Wiedergang von Sullys Geist beiwohnen können, wie es seine Pflicht gewesen wäre. Drei Tage später hätte er mit gezücktem Messer warten müssen, um seine Schuld anzuerkennen, sich dann ins Fleisch schneiden und sein Blut Sullys Geist als Wiedergutmachung für seinen Tod anbieten müssen. Während die anderen aufstanden, blieb Ash am Tisch sitzen. Einem einzelnen Geist Genugtuung zu leisten, das war etwas, was er sich vorstellen konnte. Das war etwas Persönliches, Unmittelbares, Notwendiges. Aber dies mit einer ganzen Armee von Geistern zu tun, die vor vielleicht tausend Jahren gestorben waren … Er schüttelte den Kopf, stieß sich vom Tisch ab und folgte den anderen zur Tür. Wie so etwas funktionieren sollte, konnte er sich nicht vorstellen.
Flax war außer sich vor Freude, als Bramble ihn und Ash zu den Ställen begleitete, um nach den Pferden zu schauen und die beiden mit Cam und Mud bekannt zu machen. Ash Trine zu leihen wagte sie nicht. Außerdem mochte sie selbst das kratzbürstige Pferd am liebsten.
Die Vorstellung, wieder auf Wanderschaft zu gehen, ließ Flax fröhlich drauflosplappern. »Ich halte es in Städten nicht lange aus«, sagte er. »Ich fühle mich eingesperrt.«
»Ich auch«, sagte Bramble. »Bist du schon immer gewandert?«
Er nickte. »Als Mama und Papa sesshaft wurden, sind Zel und ich gemeinsam auf die Wanderschaft gegangen. Das ist jetzt sechs Jahre her.«
Ash korrigierte seine Schätzung von Flax’ Alter nach oben. Er musste mindestens siebzehn sein, redete jedoch wie ein wesentlich jüngeres Kind.
Dafür kannte sich Flax gut mit Pferden aus und konnte sie mit seiner Stimme besänftigen. Bramble entspannte sich bei dem Gedanken, dass sie ihre kostbaren Pferde jemand anderem überließ. Als er mit dem Striegeln fertig war, verabschiedete sich Flax mit einem fröhlichen »Wind in deinem Rücken!«
Danach verbrachte Bramble ein wenig Zeit bei Mud und Cam und brachte Ash bei, wie man sie striegelte und fütterte und versicherte den Pferden, dass sie sich bald alle drei wiedersehen würden. Selbstverständlich würden sie das. Sie rieben ihre Nasen an ihr und wieherten leise, als wollten sie sie damit über ihre bevorstehende Trennung hinwegtrösten. Schließlich wurde Trine eifersüchtig und vertrieb die beiden anderen Pferde. Bramble lachte und wischte sich die Hände ab. Der Kontakt mit den Tieren schien sie belebt zu haben, dennoch wirkte sie nach wie vor sehr müde.
»Das reicht für einen Tag«, sagte sie. Sie wandte sich Ash zu und hob die Brauen. »Wenn wir all diesen Geistern Wiedergutmachung leisten wollen, hast du dich da schon mal gefragt, wer das ganze Blut spenden soll, das für ein solches Ritual benötigt wird?«
Das hatte er in der Tat. Um dem Geist eines Ermordeten
Genugtuung zu leisten, musste der Mörder seine Schuld anerkennen und dem Geist sein eigenes Blut anbieten. Ash erschauerte bei der Erinnerung an die Berührung durch die Zungen der Geister auf seiner Haut in dem Moment, in dem er sein Blut als Wiedergutmachung für die beiden von ihm getöteten Männer angeboten hatte. Es waren Männer gewesen, die Martine hatten töten wollen, vergegenwärtigte er sich. Das Ritual war genau festgelegt. Jeder Geist benötigte Blut. Allerdings hatten diese Geister es abgelehnt, auch Blut von Martine anzunehmen, fiel ihm nun ein. »Blut ist nur ein Symbol«, hatten sie gesagt, »wusstet ihr das nicht?«
Es gab zu viel, was sie nicht wussten, dachte er, und das konnte den Tod für sie alle bedeuten.
Nach dem Essen bei Heron trat er hinaus in den Garten hinter dem Haus, um frische Luft zu schnappen. Er setzte sich auf eine Bank und schaute hinauf zu dem wolkenlosen Himmel. Als ein nächtlicher Wind durch die Äste eines großen Fliederbuschs fuhr, regneten Blütenblätter auf Ash nieder. Der Geruch erinnerte ihn an eine andere Nacht, als er
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