Die Hueterin der Geheimnisse
in der Nähe eines verlassenen Hauses gelagert hatte, dessen Garten voller Fliederbüsche gewesen war. In jener Nacht hatte ihm sein Vater das Liebeslied mit dem Abzählen beigebracht:
Zehn weiße Blumen gab meine Liebe mir,
Hier sind die Blätter dieser Wicken:
Aufrichtigkeit -
Das ist eine!
Wahrheit -
Das sind zwei!
Poesie -
Das sind drei!
Und Li-iebe!
Chor: Liebe kann man nicht zählen,
Liebe kann man nicht fangen,
Liebe muss man geben,
Nie darf sie verkauft oder gekauft werden.
Es war ein süßliches, sentimentales Lied, das ihm nie gefallen hatte, doch sein Vater Rowan hatte es gerne auf der Flöte gespielt und dabei eine Menge Triller und Verzierungen in die Melodie eingeflochten. Über seinen Vater wollte Ash jetzt allerdings nicht nachdenken, also konzentrierte er sich darauf, die Nordsterne zu identifizieren, von denen er zwar gehört, die er jedoch noch nie gesehen hatte. Dort war der Eisbär, dort der Lachs … Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn herumwirbeln, wobei sein Messer aus seinem Stiefel in seine Hand glitt, als habe es ein Eigenleben.
Martine stand vor ihm, eine Tasse Tee in der Hand. Ihr blasses Gesicht war im Mondlicht deutlich zu erkennen, nur ihre Augen waren unergründlich. Angesichts des gezogenen Messers zog sie die Brauen hoch.
»Wenn ich dich hätte töten wollen, wärst du schon lange tot«, sagte sie.
Er errötete. Er war so angespannt, dass er einen guten Kampf fast begrüßt hätte. »Tut mir leid. Aber … Es gefällt mir hier nicht besonders.«
»Hmm. Es ist keine beschauliche Zeit, da gebe ich dir Recht.« Plötzlich lächelte sie. »Trink eine Tasse Tee, Junge.«
Er nahm die Tasse mit so viel Dankbarkeit entgegen, wie er nur aufbringen konnte, und Martine setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen neben ihn.
»Sagst du mir, wohin du gehst?«, fragte sie.
Er zögerte, unschlüssig, was er sagen sollte. »Meinen Vater suchen«, sagte er schließlich.
»Weißt du denn, wo er ist?«
Er schaute auf den Tee hinab und nickte. »Ich weiß, wo er zu dieser Jahreszeit sein muss.«
»Du gehst nach Gabriston?«, fragte Martine vorsichtig.
Überrascht riss er den Kopf hoch. Das sollte sie nicht wissen. Keine Frau sollte das wissen.
»Wie …?«
Martine zuckte mit den Schultern. »Ich bin Steinedeuterin. Wir erfahren eine Menge Dinge, von denen wir nichts wissen sollten.«
Er entspannte sich ein wenig, war aber dennoch verunsichert. Wie viel sie wusste, war ihm nicht klar, und daher konnte er es nicht riskieren, mit ihr darüber zu sprechen. Stattdessen dachte er daran, dass ihm sein Vater nicht alle Lieder beigebracht hatte. Nicht alle .
Nachdem er so lange von seinen Eltern getrennt war, nach so viel Zweifel und Täuschung durch Doronit, nachdem er so viel Verantwortung von den Göttern auferlegt bekommen hatte, wer hätte da gedacht, dass zwei Worte ihn so schmerzen würden? Sie wirkten auf Ash wie ein Tritt in den Magen, wie ein Stich in das Herz. Das war bisher die einzige Gewissheit seines Lebens gewesen, dass ihm sein Vater alle Lieder anvertraut hatte, alle Lieder, damit sie so weitergegeben werden würden, wie es sich gehörte, nämlich von Mund zu Mund.
Wie konnte er zurückkehren und danach fragen? Wenn sein Vater gewollt hätte, dass er sie kannte, wenn er ihm vertraut hätte, dann hätte er ihm die Lieder bereits beigebracht.
»Wie hast du vor, deine Reise zu bezahlen?«, fragte Martine.
Auch darüber hatte er sich bereits Gedanken gemacht. Er besaß nichts, und das Einzige von Wert, das ihm gehörte, wurde für andere Zwecke benötigt.
»Ich dachte, Cael könnte vielleicht …«
»Ich weiß nicht, ob sie so viel übrig haben«, sagte sie nachdenklich. »Ich glaube, du könntest das hier gebrauchen …«
Sie zog einen Beutel aus ihrer Tasche. Einen jähen Moment lang glaubte er, sie gebe ihm ihren eigenen Beutel Steine. Dann aber erkannte er, dass es sich um die Steine handelte, die sie im vergangenen Herbst dem Sohn des Steinedeuters abgenommen hatte. Es kam ihm so vor, als wäre es schon Jahre her, dass sie dem Geist des Steinedeuters dabei geholfen hatte, Ruhe zu finden. Den neuen Beutel für diese Steine hatte Ash im vergangenen Winter selbst angefertigt, als er bei Elva und Mabry am Feuer gesessen hatte, in dem Monat, bevor ihr Baby zur Welt gekommen war. Schon der Gedanke an den kleinen Ash erwärmte ihn. Einen Namensvetter zu haben, der als Sesshafter groß wurde mit einer liebevollen Familie und starken, schützenden Mauern,
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