Die Hueterin der Geheimnisse
entstanden, keine Übelkeit verursachten und er keinerlei Mitgefühl für die Männer empfand, die soeben gestorben waren. Dieser Mann war ein Eindringling, hielt er sich vor Augen. Er lebte von den Früchten, die mörderische Taten hervorgebracht hatten. Er hatte den Tod verdient.
Dann gingen die Geister in die Häuser. Carlion war eine friedliche Stadt. Sie hatte zwar ihre Räuber und Betrüger, doch traten diese nur in Erscheinung, wenn Besucher vom Land oder Händler auf der Durchreise während der großen Wintermesse in der Stadt waren. Die Stadtbewohner schlossen deswegen ihre Türen nicht ab. Und deshalb hatte Saker die Stadt Carlion als Erste ausgesucht, noch vor Turvite, wo das Verbrechen florierte und die Bewohner dicke Riegel vor die Türen schoben, bevor sie zu Bett gingen.
Die Geister traten schlichtweg ein und begannen mit ihrem Blutbad. Sie glitten aus der stillen, mondbeschienenen Straße in Häuser hinein, die an der Hauptstraße lagen, und wenige Momente später fingen die Schreie an.
Saker erschauerte, doch dann holte er tief Luft und tadelte sich, stellte sich vor, was sein Vater sagen würde, wenn er ihn sehen würde. Es reichte nicht, einfach nur ruhig stehen zu bleiben. Wenn er es sehen wollte, musste er dabei sein.
Also folgte er Owl in das nächste Haus.
Es war ein Backsteinhaus, das auf Wohlstand hindeutete. Das Vorderzimmer wurde als Tischlerwerkstatt benutzt, doch stand in ihm auch ein großer Webstuhl. Eine Treppe führte hinauf in die Schlafgemächer. Als die Tür krachend aufschlug, ertönte von oben laut eine fragende Stimme. Ein junger Mann mit rostrotem Haar kam die Treppe herunter
und starrte Owl und Saker fassungslos an. Dabei band er sich die Hose zu; eine Waffe trug er nicht. Hinter ihm stand eine rothaarige Frau im Nachthemd; sie war hochaufgeschossen und hatte ein ausgeprägtes, attraktives Gesicht.
Owl holte mit dem Schwert aus, woraufhin der Mann, behänder, als er gewirkt hatte, die letzten Stufen herabsprang und ein langes Stück Holz aufhob, das auf der Werkbank lag. Er konnte es noch hochheben, um Owls Schlag abzuwehren, doch das Holz zersplitterte.
»Merrick!«, schrie die Frau. Sie packte Owl und zerrte an ihm, was dem Mann Zeit einbrachte, sich zu sammeln und sich eine andere Waffe zu suchen. Er fand jedoch nur einen Beitel mit einer langen Spitze. Als die Frau ihn packte, wandte sich Owl ihr zu und holte mit dem Schwert nach ihr aus, hielt jedoch inne, wie er es zuvor bei der Frau auf der Straße getan hatte. Er stieß die Rothaarige beiseite. Saker konnte es nicht fassen. Diese Rothaarige sollte vom alten Blut sein? Doch bestimmt nicht!
»Maryrose!«, schrie der Mann und glitt an Owl vorbei, um ihr aufzuhelfen.
Owl grinste mit befriedigter Miene und holte aus, um den Mann niederzustrecken. Als das Schwert herabfuhr und den Beitel beiseiteschleuderte, warf sich die Frau vor den Mann. Das Schwert trennte ihr fast die Schulter ab, und sie fiel tot zu Boden. Gequält schrie Merrick auf und stürzte sich auf Owl, doch zwei weitere Streiche hielten ihn auf. Er stürzte neben sie, war aber noch nicht tot. Sein Blut strömte über das Haar der Frau und färbte es dunkel wie das einer Wanderin. Er wollte sich ihr zuwenden, schaffte es jedoch nur noch, mit der Hand über den Boden zu gleiten, um ihr Gesicht zu berühren. Ihre grasgrünen Augen starrten wie die einer Blinden. Zitternd glitten die Finger des Mannes über ihre Wange und fielen dann zu Boden.
»Maryrose«, flüsterte er. »Warte auf mich.« Dann starb er.
Owl lächelte und wandte sich der Tür zu. Saker zitterte, hielt sich jedoch vor Augen, dass dies hier notwendig war. Es war nichts anderes als das, was die Eindringlinge seinem Volk angetan hatten.
Er folgte Owl nach draußen.
Mittlerweile waren Menschen auf die Straße gelaufen, um zu sehen, warum ihre Nachbarn schrien. Einige waren bewaffnet, als hätten sie mit Ärger gerechnet. Es herrschte Verwirrung, Geschrei, einige Männer versuchten, kampfbereite Gruppen zu bilden, Frauen sammelten Kinder ein, die gähnend und in ihren Nachtkleidern hinausgelaufen waren.
Viele starben. Meist ging es schnell. Manchmal jedoch nicht. Selbst die Männer, die kampfbereit nach draußen getreten waren, wurden rasch überwältigt. Wer ein Schwert hatte, wusste damit nicht umzugehen. Mit den Arbeitsgeräten ihrer Zunft konnten sie sich besser verteidigen: Messer, Hacken, Sensen, Äxte. Sie kämpften verzweifelt, vermochten sich jedoch nicht zu retten. Nicht wenn
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