Die Hueterin der Geheimnisse
Wald?«
»Damit ich Dinge verändern kann«, sagte sie. »Sie verbessern kann.«
Schockiert trat der Jäger einen Schritt zurück. »Nein, nein, nein. Begreifst du denn nicht? Das hier sind Stätten der Erinnerung . Sie dürfen nicht verändert werden. Niemals. Erinnerung ist heilig.«
»Aber …«
Er zog sein Messer. »Bevor du das tust, würde ich dich eher ungereinigt töten«, sagte er, »und aus diesem Grund dann auch sterben.«
»Warum?«
Er suchte nach Worten, das Gesicht mit Sorgenfalten verzogen wie das eines Kindes, dem eine zu schwierige Frage gestellt worden war. »Die Zeit ist mit der Erinnerung verknotet. Mit den Stätten der Erinnerung. Nimm eine Veränderung vor, und die Knoten lösen sich alle auf. Nicht nur
die Zukunft löst sich dann auf, sondern auch die Vergangenheit.«
Seine Stimme klang ehrlich, und sie wusste, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Sie ließ die Schultern hängen. Sie hätte wissen sollen, dass es nicht möglich war. Immer wieder hatten die Götter sie an einen Ort geführt, an dem die Zukunft, hätte sie eingegriffen, besser gewesen wäre, aber stets hatten sie sie daran gehindert. Es war wohl Zeit, dies zu akzeptieren. Ihre Rolle war es, zu beobachten und wiederaufzufinden. Zeuge zu sein und zu erinnern. Wie der Jäger.
Dieser sah sie besorgt an; sein Gesicht hatte einen Ausdruck, den sie noch nie darauf gesehen hatte.
»Du willst mich gar nicht töten«, sagte sie erstaunt.
Er zuckte zusammen und schlug die Augen nieder. Dann hob er das Kinn und starrte ihr in die Augen. »Du bist mir zu ähnlich«, sagte er. »Furchtlos und voll Freude. Trotzdem bist du meine Beute, und eines Tages wirst du Angst haben, und dann werde ich da sein und meine Beute beanspruchen, und dann werde ich wieder ein richtiger Jäger sein. Einer, der seine Beute nicht hat entkommen lassen.«
Sie nickte. »Das wird ein guter Tod sein«, sagte sie. »Ich vergebe dir dafür und erlasse dir die Wiedergutmachung.«
Der Jäger wurde blass im Gesicht. »Was hast du da gesagt?«
Bramble lächelte und berührte seine Schulter, nur einmal und nur kurz. »So reinigen wir einander vom Töten.«
Die Worte beunruhigten ihn erneut. Er starrte sie mit seinen goldenen Augen starr wie ein Falke an. »Ich weiß nicht, ob das ein Segen oder ein Fluch ist«, sagte er.
Auch sie wusste es nicht, und so zuckte sie nur mit den Schultern und grinste. »Das Risiko musst du eben eingehen«, sagte sie, woraufhin ihn ihre Heiterkeit ansteckte und er kichern musste, plötzlich voller Energie.
»Komm«, sagte er. »Hier entlang.«
Sie folgte ihm und wappnete sich für einen erneuten langen Marsch. Binnen weniger Minuten jedoch standen sie am Rand des Waldes und schauten auf Wilis Gehöft hinab. Es war eiskalt, und ihr Atem - aber nur der ihre - dampfte in der Luft. Der Blick, den sie auf das Gehöft werfen konnte, glich dem, den Red gehabt hatte. Irritiert von dem Gedanken schaute sie sich rasch um und entdeckte Red. Er war wegen eines großen Baumes von dem Gehöft aus nicht, von ihrer beider Standort jedoch deutlich zu sehen.
Sie trat einen Schritt vor in die Deckung eines Wacholderstrauchs, damit er sie nicht entdeckte. Der Jäger hatte sich dort bereits verborgen. Sie beobachtete Red genau. Er war tatsächlich ein großer, tapsiger Mann und wirkte nervös. Er sah ein wenig anders aus, als durch Baluchs Augen betrachtet. Warum, wusste sie nicht. Sie sah ihn nun deutlicher, erkannte jetzt die Details seiner Kleidung, die Form seines Kopfes. Vielleicht bestand der Unterschied auch bloß darin, dass sie ihn einmal mit dem Blick einer Frau und das andere Mal mit dem eines Mannes ansah. Vielleicht richtete sich Baluchs Aufmerksamkeit auch so häufig auf die Musik in seinem Inneren, dass er nur wenig wahrnahm.
Sie hatte sich zu lange damit beschäftigt, Red zu beobachten und sich dabei Fragen zu stellen. Schockiert hörte sie nun den keuchenden Atem eines Pferdes, das hinter ihr durch den Schnee trottete. Sie wirbelte herum, und da war er.
Durch ihre eigenen Augen betrachtet wirkte Acton größer denn je, vor allem auf dem kleinen Pferd. Er war hochaufgeschossen und so breitschultrig, dass seine Figur sie an die eines Schmiedes erinnerte. Er trug keine Kopfbedeckung, und der Bart, den er sich wachsen ließ, überzog im winterlichen Sonnenschein sein Kinn mit goldenen Funken. Es
war anders, ganz anders, als ihn durch Baluchs Augen zu sehen. Ihre Gefühle wühlten sie innerlich auf, ohne dass sie sich darüber klar
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