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Die Hueterin der Geheimnisse

Die Hueterin der Geheimnisse

Titel: Die Hueterin der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Freeman
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werden konnte. Sie hatte ihn so lange gehasst und dann gelernt, ihn nicht zu hassen, bis sie ihn wieder hasste. Er hatte so viele Menschen getötet … Aber hier nun, in der Vergangenheit zu sein und ihn in Fleisch und Blut vor sich zu haben ließ sie erkennen, dass er aus dieser Zeit stammte so wie sie aus der ihren, und er hatte seine eigenen Stärken und Schwächen. Er war ein Mörder, weil er dazu ausgebildet worden war, ermutigt durch alle, denen er Respekt entgegenbrachte. Welche Ausrede hatte sie? Immerhin war er großzügig und freundlich und konnte eine große Freude am Leben empfinden, wenn er nicht mordete.
    Ihr Herz hämmerte wie wild. Er war so groß. Meistens hatte sie ihn durch die Augen eines anderen Mannes gesehen, der etwa gleich groß gewesen war und fast so stark wie er auch. In ihrem eigenen Körper war sie sich nun deutlich bewusst, um wie viel er sie überragte, wie männlich er war.
    Als er auf ihre Höhe kam, schaute er instinktiv in ihre Richtung. Sie war nicht im Stande, sich zu rühren. Die Götter waren Zeugen dafür, sie war wie gelähmt vor Schrecken. Sie hatte sich so sehr daran gewöhnt, eine unsichtbare Beobachterin zu sein, dass ihr gar nicht in den Sinn gekommen war, dass er sie nun sehen konnte. Diese Begegnung musste doch sicher die Erinnerung beeinflussen, den Verlauf der Geschichte, oder? Würden sich nun die Knoten der ganzen Vergangenheit und Zukunft um sie herum auflösen, weil sie einen dummen Fehler gemacht hatte?
    Dann lächelte er sie an, jenes schiefe Lächeln von der Seite, das er aufsetzte, wenn er Frauen betören wollte, und da begriff sie, dass sie diese Szene schon einmal gesehen hatte, und zwar durch Reds Augen - dass sie bereits Teil seiner
Zeit, Teil dieser Geschichte war. Erleichterung überflutete sie, aber das war es nicht, was sie dazu veranlasste, sein Lächeln zu erwidern. Er war es. Sein Blick lud sie dazu ein, seine Freude an dem Tag, den Bäumen, der frischen Luft zu teilen. Es war ein herrlicher und einladender Blick, und sie konnte ihm nicht widerstehen. Genauso wenig wie alle anderen Frauen ihm je widerstanden hatte, schimpfte sie mit sich selbst und gewann wieder die Kontrolle zurück. Doch er hatte diese erste, unkontrollierbare Reaktion auf sein Lächeln gesehen und zwinkerte ihr nun zu.
    Sie hätte ihn vom Pferd herunterziehen und durchschütteln wollen, um ihn zu Verstand zu bringen, ihn an seinen breiten Schultern packen und von dem Weg, den er eingeschlagen hatte, wegzerren, um ihn in Sicherheit zu bringen. Er war ja so unbesonnen, irgendwohin zu reiten, ohne wenigstens Baluch als Begleitung mitzunehmen! Sie war ja selbst unbesonnen und begriff deshalb, warum er Risiken einging. Sie selbst hatte sich mit ihm in diesen gesonnt. Aber dieses Mal, bloß dieses eine Mal wünschte sie sich verzweifelt, er wäre vorsichtig … Wäre er doch bloß vorsichtig gewesen!
    Als sie ihre Stirn in Falten legte, wurde sein Lächeln noch breiter, und er hob eine Hand zum Abschied. Dann ritt er weiter. Seine Geste besagte: »Wir sehen uns noch einmal.« Dieser Gruß versetzte ihr einen Stich ins Herz und erinnerte sie daran, wohin er ritt. Es tat ihr leid, ein finsteres Gesicht gemacht zu haben. Die letzte Frau, die er zu sehen bekam, hätte ihn anlächeln sollen.
    »Bist du fertig?«, fragte der Jäger.
    Bramble beobachtete, wie Acton in das Waldgebiet ritt, sah zu, wie Red aus seinem Versteck trat und ihm folgte, sah zu, wie sie beide hinter einem Gebüsch Immergrün verschwanden. Sie dachte an die Begräbniszeremonien ihrer Jugend,
sah vor ihrem inneren Auge die kleinen Kiefernzweige, die zwischen die Finger gelegt wurden, hörte den Dorfsprecher von Wooding sagen: »In deinen Händen ist Immergrün, mögen unsere Erinnerungen an dich immer grün bleiben.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie blinzelte sie weg.
    »Ja«, sagte sie, »ich bin fertig.«
    »Ich muss dich berühren«, sagte der Jäger. Sie begriff, dass er sie damit wissen lassen wollte, dass er sie nicht angriff. Ihr wurde nun auch bewusst, dass er nur selten jemanden berührte. Sie streckte die Hand nach ihm aus, und er ergriff sie; seine Handfläche war trocken und rau wie die Pfote eines Hundes. Sie waren schon so oft durch die Zeit gereist, dass sie wusste, was sie tun musste. Sie trat einen Schritt vor.
    Sofort verschob sich die Welt und neigte sich um sie. Die Erde unter ihren Füßen bewegte sich, und statt auf einer Anhöhe stand sie nun auf ebenerdigem Boden. Bäume

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