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Die Hueterin der Geheimnisse

Die Hueterin der Geheimnisse

Titel: Die Hueterin der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Freeman
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führte dazu, dass Ash sich stärker fühlte. Älter und fähiger. Allerdings nicht so stark, dass er bereit gewesen wäre, die Steine anzunehmen.
    »Du wirst sie verstehen«, versicherte ihm Martine. »Am Anfang sprechen sie laut. Sie wollen verstanden werden. Und denk daran, antworte einfach auf jede Frage, die dir gestellt wird. Mach nicht den Fehler und erzähl den Leuten mehr, als sie gefragt haben.«
    »Ich bin kein Deuter«, sagte er hastig.
    »Du könntest aber einer sein. Du hast seherische Fähigkeiten. Das weißt du.«
    Sicher wusste er dies nicht. Er vermutete es. Er wollte es auch gar nicht genau wissen. Schon so war er seltsam genug, konnte Geister sehen, sie zum Sprechen bewegen, konnte mit der Stimme der Toten singen. Seherische Fähigkeiten würden ihn noch sonderbarer machen.
    »Steinedeuter gelten nicht als Sonderlinge«, sagte Martine,
die wie so häufig seine Gedanken zu lesen schien. »In Wirklichkeit gehören wir doch einfach zur Welt dazu.«
    Unwillkürlich musste er lachen. Es stimmte schon, Steinedeuter wurden überall akzeptiert. Als sie ihm den Beutel reichte, nahm seine Hand ihn wie von selbst an sich.
    Das weiche, schwere Leder mit den Steinen darin passte in seine Hand, als habe er es schon tausendmal darin gehalten.
    »Ach so«, sagte Martine. »Ach so.« Sie klang enttäuscht und machte Anstalten, den Beutel wieder an sich zu nehmen.
    »Was ist denn?«, fragte Ash bestürzt. Seine Finger umkrampften den Beutel. Martine hielt inne.
    »Sie sind nicht gestimmt«, sagte sie.
    Er hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Nun war sie ihrerseits überrascht.
    »Kannst du sie nicht hören?«
    Ash schüttelte den Kopf. Martines Miene war so unergründlich wie an dem Tag, als er sie kennen gelernt hatte. Es war, als habe sie sich von ihm zurückgezogen. Als habe er sie enttäuscht.
    »Die Steine singen. Na ja, nicht wirklich. Nicht wie Menschen. Aber wenn sie keinen Deuter haben, dann singen sie fortwährend, verstimmt und aus dem Takt. Es ist unangenehm. Deswegen habe ich diesen Beutel in eine Decke eingerollt. Damit ich sie nicht ständig hören muss.«
    »Und?«
    Martine zögerte. »Wenn sie ihren Deuter finden und er oder sie sie in die Hand nimmt, dann werden sie gestimmt.«
    Ash starrte auf den Beutel hinab, der in seinen Ohren so stumm war wie ein Grab. »Ich kann sie nicht einmal hören«, sagte er. »Also sind sie wohl auch nicht gestimmt worden.«

    »Nein«, sagte sie sanft und legte ihm ihre Hand auf die Schulter. »Ich war mir sicher, dass du ein Deuter bist. Ich habe sogar die Steine dazu befragt, und sie sagten ja, absolut. Ich verstehe nicht …«
    »Was gibt es da zu verstehen?«, konterte er, mit einmal wütend. Er warf ihr den Beutel auf den Schoß. »Ich kann es nicht. So wie ich nicht singen kann. Oder Flöte spielen. Oder überhaupt etwas, das mit Musik zu tun hat.«
    »Das kann sein«, sagte Martine langsam. »Aber meine Deutung war ganz eindeutig. Es ist noch nie vorgekommen, dass die Steine sich völlig irrten. Ich werde sie nochmals werfen.«
    »Spar dir die Mühe«, sagte er. »Ich werde sie trotzdem nicht hören können.«
    Er entfernte sich mit schnellen Schritten und ging die stillen Straßen der ruhigen Stadt entlang, bis der Lachsstern unter dem Horizont versunken war. Dann kehrte er in die Herberge zurück, legte sich in dem Zimmer mit der grünen Decke hin und versuchte, nicht an all die Dinge zu denken, bei denen er zu nichts nütze war, nicht an all die Menschen, die er enttäuscht hatte. Vielleicht hatte sein Vater ihm zu Recht nicht vertraut. Das Einzige, was er gut beherrschte, war das Töten.

Bramble
    So hoch im Norden ging die Sonne selbst im Frühling früh auf. Als sie sich vor Safreds Haus trafen, gähnten und fröstelten sie alle. Sie folgten Safred durch die Gassen und Straßen der Stadt zu einem bewaldeten Gebiet vor der Stadt. Etwa zwanzig Einheimische begleiteten sie und begrüßten einander dabei so zwanglos nickend oder gähnend, dass Bramble begriff, dass sie den Weg zum Wald der Götter jeden Morgen gemeinsam gingen.
    Der Wald war von Feldern und einigen Häusern umgeben. Offensichtlich war die Stadt um den Altar gewachsen, hatte diesem jedoch genug Raum gelassen. Die Götter mochten es nicht, eingeengt zu werden, hieß es.
    Bramble spürte ihre Gegenwart leicht in ihrem Inneren. Es war nicht der unangenehme Druck, den sie ausübten, wenn sie etwas von ihr wollten, sondern es fühlte sich geradezu freundlich an. Es war das erste Mal, dass sie so

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