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Die Hueterin der Geheimnisse

Die Hueterin der Geheimnisse

Titel: Die Hueterin der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Freeman
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dort, wo sie herkamen, keinen Wald gab, nur einzelne Bäume hier und da, einsam und voller Sehnsucht nach dem Wald.
    Also haben sie das mit mir, das mit uns allen, die wir Teil des Waldes sind, vielleicht aus diesem Grund nicht verstanden. Sie waren überrascht, als ich nicht stürzte, während sie auf mich einschlugen; sie bekamen es mit der Angst zu tun und rannten davon. Ihre Flucht wurde ein Teil meines Wesens, so wie die Flucht des Auerochsen und die des Rotwilds. Alle Gejagten sind ein Teil meines Wesens, denn wie sonst könnte ich ein Jäger sein?
    Nur der Jäger, der die Furcht seiner Beute spürt, erlebt den wahren, reinen Triumph; nur der Jäger, der den Schrecken seiner Beute versteht, kann von Schuld reingewaschen werden. Zu fühlen, was die Gejagten fühlen, zu rennen, wie sie rennen, zu sterben, wie sie sterben, das ist die einzig mögliche Art. Wenn man ohne diese Einstellung jagt, wird man selbst auch sterben, wie es bei den Menschen der Fall ist.
    Zu töten ist nicht schwer. Schwierig daran ist, es zu tun, während man all das fühlt, was das Opfer fühlt und sich dabei
doch die Klarheit seiner Bestimmung bewahrt. Eine Bestimmung, die den tödlichen Schlag gestattet, den Schnitt des Messers an der perfekten Stelle, sodass er den geringsten Schmerz verursacht.
    Ich erinnere mich noch genau an das erste Mal. Wer würde dies nicht? Vor langer Zeit war auch der Wald ein anderer. Ich erinnere mich an Palmfarne und Farnkräuter. Ich erinnere mich an große Echsen, die nie gejagt wurden, weil sie keine Angst empfanden wie wir. Ihre Gefühle waren so anders als die unseren, dass es nie klar war, ob wir hinterher noch rein sein würden. Also befahlen uns die Anführer, sie in Ruhe zu lassen. Nur auf Warmblüter sollten wir Jagd machen. Diese lebten so ähnlich wie wir, gesellig in Gruppen, und hatten immer große Angst vor dem Rascheln im Gebüsch, das bedeuten konnte, dass ein Mörder sich versteckte, wartete, beobachtete …
    Blut ist gut, wenn es warm ist. Wir brauchen bloß einen Schluck davon. Blut ist Leben und mehr als das - das Wissen von Leben. Dies ist etwas, das den Tieren abgeht und womit wir den Wald versorgen. Nur wer tötet, versteht das Leben in seiner Gänze, nur wer zuschaut, wie die Augen trüb werden, kennt die Bedeutung dessen, was den Körper mit dem letzten Atemzug verlässt.
    Raubtiere entscheiden über Leben und Tod; wir halten die Blutlinien sauber, die Herden gesund, die Erinnerungen wach. Alle Erinnerungen. Niemand, den wir getötet haben, ist vergessen. Niemand, den wir getötet haben, stirbt wahrhaftig. Alle von uns Gejagten leben ewig in dem Wald, in den ganz eigenen Stätten des Gedenkens. Auch wir leben dort, lebendig zu vielerlei Zeiten gleichzeitig, lebendig aber nur zu den Zeiten der Jagd, jede Beute aufs Neue spürend: die Auerochsen, das Rotwild, die Bären, die Menschen. Die Menschen empfinden am intensivsten und sind im Moment
ihres Todes am schwersten zu begreifen. Aber wir schaffen es. Das müssen wir. Der Wald gebietet es uns, all jene zu töten, die uns sehen, und so haben wir auch gelernt, wie man Menschen tötet.
    Ich weiß, wie man Menschen tötet. Aber nicht die wiedergeborene Jagdbeute. Sie hatte keine Angst. In all den ungezählten Jahren bin ich noch nie einer Beute begegnet, die keine Angst vor mir hatte. Dieser Moment hat mich verändert. Einem Menschen in die Augen zu schauen und dort nur Frieden, Annahme, Neugier zu finden - das ist nicht das, was ein Jäger zu sehen erwartet. Doch ich hatte es gesehen. Was also war ich nun? Wenn ich kein Jäger mehr war, bedeutete dies dann, dass ich ein Sterblicher war wie sie, dem Tod unterworfen wie sie auch? Ich befürchtete es. Ich wusste, dass ich dieser wiedergeborenen Jagdbeute folgen musste, bis ich ihre Angst würde spüren können, bis der Wald ihren Tod gestattete. Denn alle Menschen sterben. Dann würde ich wieder ein Jäger sein, geläutert, und die Erinnerung an ihren Tod würde sich zu den anderen Erinnerungen meiner vielen Jagden gesellen.
    Erinnerungen an den Tod bleiben ewig im Wald aufbewahrt, bis die Sonne reif ist und von den Göttern verschlungen wird. Der Wald selbst ist heute kleiner, als er früher einmal war, die Stätten des Gedenkens weniger und belebter, als sie es einmal waren, und die Erinnerungen bewegen sich schneller in ihnen als in der Vergangenheit. Dies liegt an den hellhaarigen Menschen. Aber der Wald hat in der Vergangenheit vieles ertragen, Feuer, Überschwemmung und Eis. Was sind

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