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Die Hueterin der Geheimnisse

Die Hueterin der Geheimnisse

Titel: Die Hueterin der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Freeman
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waren, waren nun Ulmen. Auf einmal hörte sie Vögel singen. Es waren Drosseln. Der Fluss war schmaler und klarer, das Wasser weniger braun, die Steine unter ihren Füßen rauer.
    Das Wesen neben ihr hielt ein langes Messer in der Hand. Ein Steinmesser von der Art, das immer scharf war. Die Situation wirkte wie bei einem Opferritual. Wie Bramble es geahnt hatte, hörte das Lachen auf. Die Gestalt am Ufer schaute sie an und setzte ein freundliches, zugleich aber schreckliches Lächeln auf. Die Gestalt war schmal und nicht größer als Bramble selbst. Auf ihre Art wunderschön, so wie eine Raubkatze wunderschön ist oder ein Falke, der seine Kreise zieht und auf seine Beute wartet. Sie hatte Habichtfedern in das Haar geflochten, sodass Bramble nicht sagen konnte, wo die Federn aufhörten und wo das Haar begann, und die Augen waren golden und hatten die Form von
Schlitzen wie bei einem Falken. Hinter der Gestalt raschelte es im Unterholz, und sie fragte sich, wie viele von ihnen da waren und warum sie noch lebte. Ihrer Verblüffung wich Ergebenheit. Wenn ihre Zeit zu sterben gekommen war, dann war das eben so.
    »Willst du nicht weglaufen, so wie das Wild wegläuft?«, fragte das Wesen. Seine Stimme war warm und merkwürdig heiser, als würde es sie selten gebrauchen.
    Bramble schüttelte den Kopf. »Ich bin lange genug weggelaufen«, sagte sie. »Wenn du mich töten willst, dann nur zu.« Sie wusste, dass der Saum des Ufers sie zu den ihren zurückbringen würde - in ihre, ja was eigentlich, Zeit? Stelle? Welt? Sie wusste auch, dass sie es nicht bis zum Saum des Wasserlaufs schaffen würde, bevor ihr diese blitzscharfe Klinge die Kehle durchschnitt. Sie verspürte keinerlei Verlangen, zur Belustigung dieses Wesens zu rennen.
    Dessen Augen weiteten sich vor Erstaunen, doch es kam einen Schritt näher. Seine Knochen bewegten sich sonderbar unter seiner Haut, eher wie die einer Katze als die eines Menschen. Noch ein Schritt. Es hob die Klinge an Brambles Kehle, berührte diese jedoch nicht.
    »Die Läuterung durch den Tod bedarf der Furcht«, flüsterte es.
    Bramble wusste, dass sie eigentlich von panischer Angst hätte ergriffen sein müssen. Doch dieses Gefühl stellte sich nicht ein. Angst zu haben, darin war sie nicht gut, war es nie gewesen. Nun, da der Rotschimmel und Maryrose nicht mehr da waren, gab es nichts mehr in ihrem Leben, das zurückzulassen ihr etwas bedeutet hätte. Als habe er ihre Gedanken gelesen, legte der Jäger die Stirn in Falten.
    »Es muss Angst da sein«, wiederholte er. Er setzte die Klinge an Brambles Kehle an und verstärkte den Druck, bis sie spürte, dass ein Rinnsal Blut floss.

    »Ich bin tot gewesen«, sagte Bramble. »Es gibt vieles, das schlimmer ist als ein sauberer Tod.«
    Das Wesen begann zu zittern, und sein Gesicht drückte Unsicherheit aus. »Ohne Angst wird der Tod und das Werk des Jägers befleckt.«
    »Dann töte mich nicht.«
    »Aber der Wald verlangt es. Jeder, der uns sieht, muss sterben.« Als wolle es lauschen, neigte das Wesen den Kopf zur Seite. »Wenn ich nicht töte, ist das Betrug …«
    Auch Bramble lauschte. Um sie herum wurde es ruhig. Die Drosseln zwitscherten nicht mehr, der Wind legte sich, selbst das Plätschern des Wassers schien zu verstummen. Dann fuhr ein Zittern durch die Baumwipfel, das nicht vom Wind verursacht wurde, sondern dadurch, dass die Erde zitterte. Das Zittern glitt an den Stämmen die Bäume hinauf und verlor sich in dem verhangenen Himmel über ihnen. Bramble spürte, dass eine Nachricht verschickt worden war, doch in einer Sprache, die sie nicht verstehen konnte. Die goldenen Augen des Wesens füllten sich mit Tränen, die ihm langsam das Gesicht herunterliefen, als sei die Nachricht der Auslöser größten Kummers gewesen. Das Wesen senkte das Messer und schob es langsam in eine Scheide an seinem Gürtel zurück.
    »Ich darf dich jetzt nicht töten. Der Wald kennt dich, wiedergeborene Jagdbeute. Du darfst dich hier unbeschadet fortbewegen.«
    »Und meine Freunde auch«, verlangte Bramble. »Und unsere Pferde.«
    Es nickte. »Wenn du es willst. Aber bewegt euch rasch, sagt der Wald. Die Zeit ist fast reif.«
    Das Wesen glitt in das Unterholz zurück, und dabei verstärkte sich der Geruch, der vom Fluss ausging.
    »Warte«, sagte Bramble. »Was ist das für ein Geruch?«

    Das Wesen lachte bitter. »Erinnerung«, sagte es. »Erinnerung und Blut.«
    Sie trat einen Schritt nach vorn, um ihm zu folgen und mehr über den Wald zu erfragen. Doch

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