Die Hueterin der Geheimnisse
zu haben, denn immerhin machte diese sich ernste Sorgen um Cael. Aber dem war nicht so. Sie beschäftigte sich in Gedanken zu sehr damit, was geschehen würde, wenn sie zum See gelangten. Dort musste es doch wohl einen Altar geben, oder?
Sie sehnte sich danach. Sie stellte sich eine Lichtung vor. Der schwarze Fels, die vertraute Gegenwart der Götter. Dort würden sie in Sicherheit sein, und Cael konnte ausruhen. Vielleicht würde Safred dort ja die Kraft haben, ihn zu heilen.
Das Licht veränderte sich, wurde goldfarben, sogar durch die Eichenblätter hindurch, und die wenigen Schatten wurden allmählich länger, während die Sonne unterging. Der Boden stieg steil an. Bald erreichten sie die Baumgrenze. Es war, als sei der Wald hier plötzlich abgeschnitten worden.
Etwas weiter oberhalb war Wasser, umgeben von einem Ring aus Eichen, und dahinter eine Grasfläche, die steil zu dem Kamm hin anstieg. Nach der Dunkelheit der Bäume glänzte das Wasser hell. Seine Oberfläche war glatt wie Eis und reflektierte stärker als jeder Spiegel, verdoppelte so das Rosarot und Gold des Lichts, die kleinen, rot gefärbten Wolken, den sich verdunkelnden Himmel. Es war nicht wirklich ein See, sondern eher ein Teich, und die Wasserfläche war makellos kreisförmig und das Seltsamste, was Bramble je gesehen hatte.
Statt Schlamm oder Schilf oder Kies befand sich am Ufer eine dünne Kante, sodass der ganze See aussah wie eine große Scheibe, die ausgehoben und dann mit Wasser gefüllt worden war. Die Kante fing die untergehende Sonne ein und reflektierte sie stark.
Mitten im Wasser befand sich eine kleine Insel, in deren Herz ein schwarzer Felsaltar stand. Er war viel größer als die meisten Altäre; Bramble schätzte, dass er ihr mindestens bis an die Brust reichte, vielleicht noch höher war. In dem üblichen matten Schwarz gefärbt, thronte der Fels auf schimmerndem Dunkelgrün.
Bramble schwang sich von Trine herunter und tätschelte sie geistesabwesend. Dann ging sie über das kurz geschnittene Gras zum Wasser. Der Rand der Insel war aus dunklem Fels. Oder Glas. Eine Mischung aus beidem? So etwas hatte sie noch nie gesehen. Sie stand am westlichen Rand einer Grasfläche, die dunkelgrün, ja fast schwarz war. Vorsichtig
trat Bramble näher heran und kauerte sich nieder, um sie zu untersuchen. Der Rand der Wasserfläche reichte ihr bis über die Knie, und der Wasserstand darin war höher als das Gras draußen, als sei der See tatsächlich eine Scheibe. Sie streckte die Hand aus und wartete ab, ob die Götter sie davor warnten, den Rand zu berühren. Doch obwohl sie ihre vertraute Gegenwart leise spürte, übten sie keinen Druck auf sie aus. Der Fels war zumeist glatt - glatter als Flusssteine, so glatt wie Glas -, jedoch mit großen Adern durchzogen wie die dunkleren Streifen in Marmor. Er verjüngte sich nach oben hin. Sie beugte sich über den Rand, um in das Innere der Schüssel zu schauen, und starrte in so klares Wasser, dass sie ihr eigenes Spiegelbild und zugleich auf den Grund des Wassers sehen konnte. Es sah so aus, als läge sie auf dem Grund des Sees und schaute zur Wasseroberfläche. Wie ein Wassergeist.
Dies beunruhigte sie. Sie zog sich zurück, und ihr Handgelenk streifte die Oberkante des Rands. Dieser war so scharf, dass Bramble erst bemerkte, dass sie sich geschnitten hatte, als das Blut zu tropfen begann; ein wenig auf das Gras, ein wenig auf den Rand, ein wenig ins Wasser.
Als der erste Tropfen im See landete, fegte ein fast unmerklicher Wind über die Wasseroberfläche, und die spiegelglatte Fläche kräuselte sich. Auch Bramble zitterte. Was immer dieser Ort sein mochte, es war nicht die Heimat der ihr vertrauten Götter.
»Wie werden wir dort hinkommen?«, fragte Martine hinter ihr.
Bramble stand auf und wischte sich das Blut an den Gesäßbacken ab.
»Schau«, sagte sie.
Während die Sonne tiefer sank und die Spiegelung an der Oberfläche verblasste, konnten sie sehen, dass runde Steine
zu der Insel führten wie Kreise im See, bloß unterhalb der Wasseroberfläche. Besonders dick waren sie nicht, lagen aber jeweils nicht weiter als einen Fuß breit auseinander.
»Trittsteine?«, fragte Martine zweifelnd. »Und wenn wir stürzen?«
Bramble zuckte die Achseln. »Werden wir nass. Und vielleicht Schlimmeres.«
Safred, Zel und Cael gesellten sich zu ihnen. Cael war zwar blass, sah aber nun, da er aus dem Wald heraus war, ein wenig besser aus. Er bückte sich, um den Felsrand genauer zu
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