Die Hueterin der Geheimnisse
Dadurch hatten sie nun mehr Zeit, sich Augen vorzustellen, die sie beobachteten. Ohren, die lauschten. Nasen, die rochen. Das Gefühl, belauscht und beobachtet zu werden, wurde zunehmend stärker.
Die Bäume waren hier viele Jahrhunderte alt, und unter ihnen wuchsen lediglich Farnkräuter und Pilze, sodass sie leicht vorankamen. Im Schritt ritten sie unter Bäumen entlang, die so hoch waren, dass man nicht auf sie hätte klettern können, so dicht belaubt, dass man die Sonne nicht sehen konnte. Die Luft wurde stickig und heiß. Bramble stellte fest, dass sie immer angespannter wurde und mit einem Angriff rechnete, der aber nicht stattfand.
Sie gelangten an einen Wasserlauf, an dem Bramble die Pferde trinken lassen wollte. Also stieg sie ab und wandte sich den anderen zu, die nun nach und nach auftauchten. In diesem Moment erkannte sie, dass der Angriff bereits in vollem Gang war. Cael, der direkt hinter ihr gewesen war, zitterte vor Schmerz und Schwäche, und sein fahles Gesicht war schweißbedeckt. Sein Hemd war blutdurchtränkt. Sie trat zu ihm, um ihm vom Pferd zu helfen. Dabei landete er unsanft in ihren Armen und lehnte sich an ihre Schultern.
»Warum hast du denn nichts gesagt?«, fragte Safred und half Bramble dabei, ihn auf dem Gras abzusetzen. Martine holte einen Becher aus ihrer Satteltasche. Sie ging zum Bach, um Wasser zu holen, während Bramble Caels Hemd hochschob, um die Wunde zu begutachten. Sie sah nicht gut aus, war rot und geschwollen und blutete weiterhin dort, wo die Spitze eingedrungen war.
»Der Wald hält die Wunde offen«, sagte er. »Das spüre ich. Da kann man nichts machen.«
Martine kam mit dem Wasser zurück. »Ich glaube, es ist gut«, sagte sie. »Es riecht nach nichts.« Cael trank es bereitwillig und hielt ihr dann den Becher wieder hin, um mehr zu bekommen.
»Wenn Safred ihn nicht heilen kann, bringen wir lieber den Wald dazu, es zu tun«, sagte Bramble. »Wartet hier.«
Sie wusste, was sie benötigte, und die Ufer eines Wasserlaufs waren eine gute Stelle, um es zu finden: Mutterkraut, Beinwell, Braunwurz, Grünwurz. Sie brauchte nur wenige Minuten, um alles beisammenzuhaben.
Als sie zurückkam, zerriss Martine gerade ein Hemd, um Verbandsstoff daraus zu machen, und Safred wusch Caels Wunde, allerdings auf eine ungeübte Art und Weise, sodass Bramble die Mundwinkel verzog. Sie hat nie lernen müssen, auf normale Weise zu heilen, dachte sie. Bloß einen Moment mit den Göttern, und jede Wunde löste sich in Luft auf. Lebe und lern dazu, Mädchen.
»Mach eine Kompresse aus dem Braunwurz und Beinwell«, sagte sie zu Safred und reichte ihr die Blätter. Bramble nahm den Becher und zerdrückte ein paar der Mutterkrautblätter darin. Dann füllte sie ihn mit Wasser aus dem Bach und stellte ihn neben Cael auf den Boden, damit die Kräuter ziehen konnten. »So gut wie ein Kräutertee wird es nicht sein, aber ich denke, wir machen hier lieber kein Feuer.«
Mühsam nickte er.
»Das ist eine sonderbare Wunde«, sagte sie. »Wer hat sie verursacht?«
Safred legte eine Pause ein, während der sie Leinen um die Kräuter schlug. Sie hörte angespannt zu.
»Ich kann sie nicht benennen«, sagte er langsam. »Sie waren groß. Sie flogen. Aber es waren keine Vögel. Und auch
keine Fledermäuse. Sie hatten kein Fell. Waren riesig. Mit Krallen. Eine hat mich fast so gepackt, wie ein Falke ein Huhn packt, aber ich habe mich weggedreht und …« Er deutete auf seine Brust. »Dann bin ich einen Moment lang geflogen!« Er versuchte zu lächeln und wandte sich Zel zu. »Dann hat mich die Kleine von dort herausgeholt.« Sie wurde ein wenig rot und murmelte etwas Unverständliches.
Es gelang ihnen, Cael wieder auf sein Pferd zu heben, und mit dem Mutterkraut schien es ihm ein wenig besser zu gehen. Bramble gab Safred den Rest der Kräuter und sagte ihr, sie solle aus dem Mutterkraut und dem Grünwurz am Abend einen Tee zubereiten.
»Ich habe Weidenrinde«, bot Martine an.
»Gut. Die nehmt dann ebenfalls. Es wird ihm helfen zu schlafen.«
»Woher weißt du so viel über die Heilkunst?«, fragte Safred.
Bramble lachte sie aus. »Safred, was ich weiß, weiß so gut wie jede Frau in den Domänen. Wenn man ein krankes Baby hat oder sich ein Unfall ereignet, kann nicht jeder zur Quelle der Geheimnisse rennen, um geheilt zu werden!«
Safred errötete und ließ ihr Pferd zurückfallen, bis sie neben Cael ritt. Bramble fand, sie müsste sich eigentlich schlechter dafür fühlen, Safred so geärgert
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