Die Hueterin der Geheimnisse
Martine sich sehr alt und nicht so klug vorkam, wie sie es hätte sein sollen. So wie eine Großmutter, die sie aber nicht wirklich war. Ob sie wohl mehr Erfahrung hätte, wenn Elva die Frucht ihres Leibes gewesen wäre und nicht bloß ihres Herzens?
»Was, wenn ihm das nicht genügt?«, beharrte Zel.
»Psst«, machte Martine. Falls Safred jetzt aufwachte, würde sie ein Geheimnis wittern und gar nicht mehr aufhören, sie mit Fragen zu überschütten. Was hätten sie ihr sagen sollen? In ihr floss überhaupt kein altes Blut, das hatte sie selbst zugegeben. Martine reichte Zel den Birkenpilzzunder.
Wanderinnen hatten Frauen von Actons Blut schon einmal in das Ritual des Feuers einweihen wollen, und Martine wollte an einer solchen Katastrophe nicht beteiligt sein. Selbst die Quelle der Geheimnisse würde vor dem Feuer nicht sicher sein. Der Feuergott mochte keine Fremden, das wussten sie alle.
»Ich weiß nicht«, sagte Martine leise. »Darüber machen wir uns erst Sorgen, wenn es so weit ist.«
Zel schluckte heftig, bevor sie den ersten Schritt auf die scheinbar leere Oberfläche des Wassers machte. Doch mit ihrem Gleichgewichtsgefühl einer Jongleurin machte sie den nächsten Schritt müheloser als Martine. Diese wurde von dem Gefühl überwältigt, dass der See sie beobachtete. Nicht feindlich, aber bereit, auf alles zu reagieren, was er als Bedrohung empfand.
Seite an Seite schritten sie, wie es das Ritual verlangte, hinaus bis zum Altar. Martine strengte ihre Sinne an, doch die Götter waren nicht anwesend. Zu Zeiten des Feuers waren sie nie da. Martine hatte sich immer schon gefragt, warum
das so war - aus Angst oder Respekt, oder war hier eine Art Vereinbarung getroffen worden? Sie hörte auf, sich darüber Gedanken zu machen. An diesem Abend war kein Platz für Zynismus.
Zel schichtete aus dem Zunder und dem Anmachholz ein kleines Häufchen auf der glatten Oberfläche des Altars und trat zurück. Martine legte ihren Schlagstein und den neuen Feuerstein Seite an Seite neben den Zunder auf den Altar und stellte sich neben Zel.
»Wir sind Töchter des Feuers«, sagten sie gemeinsam, »Töchter von Mim, der Feuerdiebin, Mim, der Feuerliebhaberin, Mim, der Liebe des Feuers. Das Feuer darf niemals erlöschen.«
Wie immer bei Ritualen empfand Martine eine Mischung aus Befangenheit und Begeisterung, aus Albernheit und Ehrfurcht. Zel standen Tränen in den Augen. Gemeinsam traten sie einen Schritt vor.
Zel griff nach dem Läuferstein und legte ihn direkt auf das Häufchen aus Pilz, Rinde und Kiefernnadeln. Martine nahm den Feuerstein. Sie musste im richtigen Winkel daran schlagen, was stets schwerer war, wenn jemand anders den Stein hielt, schwerer auch wegen der Höhe des Altars. Aber keine der beiden vollzog das Ritual zum ersten Mal, und das erleichterte die Sache.
Zel wappnete sich und nickte. Martine schlug präzise in die flache Rille auf dem Läuferstein, woraufhin entlang dieser Funken flogen, genau in den Zunder hinein. Sofort fingen die getrockneten Pilze Feuer. Sie warteten einen Moment, bis der Funken den Zunder zum Glimmen brachte. Ein kleiner Ring aus Licht im Dunkeln, der sich allmählich vergrößerte. Zel legte den Rest des Anmachholzes darauf, und beide gingen sie in die Hocke, damit ihr Mund auf einer Höhe mit dem Zunderhäufchen lag.
»Nimm unseren Atem, um dein Wachstum zu beschleunigen«, flüsterte Zel. Sie bliesen sanft, ganz sanft auf das Häufchen, und daraufhin entstand direkt neben dem Funken auch eine Flamme. Sie standen auf, traten einen Schritt zurück und warteten.
Während das Feuer höher aufloderte und an dem Anmachholz leckte, spürte Martine seine Gegenwart. Wie immer machte er sich körperlich bemerkbar, nicht in ihrem Geist, völlig anders als bei der Gegenwart der einheimischen Götter. Eine Hitzewelle, aus ihrer Magengrube und ihren Lenden strömend, überflutete sie und ließ ihre Brustwarzen steif werden. Zels Kopf fiel zurück, ihre Augen waren geschlossen, und ihr Atem beschleunigte sich. Es war schlimmer - oder besser -, wenn man jünger war, dachte Martine. Bei diesem Gedanken überrollte sie eine weitere Hitzewelle. Ihr Körper übernahm die Herrschaft über ihre Gedanken und füllte ihren Geist mit Bildern von Feuer, Flammen, brennendem Gold. Jedes Bild trug auch ein Gefühl der Berührung in sich, von Liebkosung und Erforschung, von Zärtlichkeit und Necken. Sie sehnte sich zutiefst nach der Berührung durch das Feuer. Nach Erfüllung.
Ihr Körper fing an
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