Die Hueterin der Geheimnisse
aufbrechen. Ein Schneesturm würde ihren Tod bedeuten.« Prompt erschraken die Frauen und machten ein Zeichen mit ihrem kleinen Finger, offenkundig als Schutz gegen Unglück.
»Harald sollte …«
Acton fiel ihr ins Wort. »Mein Großvater hat Recht. Jetzt hinauszugehen, ohne zu wissen, wo Friede sich befindet, wäre tollkühn. Dann würden sich noch mehr verirren. Aber hinauszugehen und zu wissen, wo sie ist, das ist etwas anderes.«
»Die Götter …«
»Nicht die Götter …«, fiel ihr Baluch hastig ins Wort. »Ein freundlicher Geist, das ist alles. Nur der Stammesführer spricht mit den Göttern.«
Asa nickte zustimmend. »Ja«, wiederholte sie. »Ein freundlicher Geist. Gut. Geht und findet sie. Aber …«, ihre Stimme
stockte ein wenig, und sie streckte die Hand aus, um Acton das Haar zu glätten. »Geht kein dummes Risiko ein. Ein Leben ist nicht zwei wert.«
Er lächelte sie an, doch er war gerade im Begriff, ihren Rat zu missachten. Bei dem Gedanken an die Gefahren, die er eingehen würde, funkelten seine Augen vor Vergnügen. Bramble kam nicht umhin, Verständnis für ihn aufzubringen. Vor einem Jagdrennen war es ihr oft genug genauso gegangen.
Die Frauen halfen ihnen in schwere Winterkleidung, zottige Mäntel und Strumpfhosen aus Schaffell, Filzhüte mit Ohrklappen und langen Kragen, die man sich wie einen Schal um den Hals schlingen konnte, Handschuhe. Sie nahmen einen Rucksack mit Kerzen, einer Zunderbüchse, Trockenäpfeln, Wasser, Brot und einem zusätzlichen Mantel mit. Diesen würde das Mädchen tragen, sobald die beiden es gefunden hatten.
»Stiefel braucht sie keine«, sagte Baluch verträumt. »Wir werden sie tragen.«
Sie traten hinaus in den schneidend kalten Wind. Inzwischen war es fast tiefe Nacht, am Himmel jagten schwere Wolken entlang, und nur ab und zu blitzte die Sichel des Mondes auf. Der Boden war mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Acton ging voraus, bis sie sich im Windschatten des letzten Nebengebäudes befanden. Schon jetzt war Baluchs Nase rot und schmerzte. Auch seine Ohren brannten. Der eisige Wind schmerzte ihn zusätzlich wegen seines fortwährenden Pfeifens und Heulens. Es schien, als würden seine Ohren empfindlicher auf Geräusche als auf Kälte reagieren. In dem tosenden Lärm erstarb seine innere Musik.
»Und?«, fragte Acton. »Wo entlang?«
Baluch hielt inne und senkte den Kopf. Bramble fiel auf, dass die Spitzen seiner Stiefel wie bei einem kleinen Jungen
verschlissen waren, und plötzlich empfand sie eine mütterliche Zuneigung zu ihm. Er war jener Baluch, der Baluchston gegründet hatte. Derjenige, der mit dem See ein Abkommen, eine Stadt und eine Fähre betreffend, vereinbart hatte. Der erste Fährmann. Warum der See auf dieses Abkommen eingegangen war, hatte sie nie so recht verstanden, aber es ergab Sinn, jetzt, da sie Einblick in sein Innerstes bekam. Dieser Junge könnte den See begreifen. Warum war er dann der beste Freund von Acton, dem Kriegsherrn?
Bramble spürte die Gegenwart der Götter um Baluch, der Druck auf ihren Kopf war jedoch nur leicht. Die ganze Aufmerksamkeit der Götter konzentrierte sich auf ihn.
Baluch hob den Kopf und gestikulierte wild. »Dort an der nördlichen Flanke hinauf«, sagte er. »Über den Schafbach und dann hinter Barleyvale noch weiter bergauf.«
Acton nickte. »Du folgst mir, bis wir dort sind«, sagte er.
Baluch biss sich auf die Lippen, als gefiele ihm die Anweisung nicht, doch er folgte Acton dicht auf dem Fuß. Bramble erkannte, dass Acton sich dem Wind entgegenstemmte und Baluch es dadurch in seinem Windschatten leichter hatte. Diese Vorgehensweise leuchtete ein. Baluch war kleiner, schmächtiger - er würde bei diesem Wind und in dieser Kälte eher ermüden. Er war derjenige, der sie zu dem Mädchen führen konnte. Es war eine gute taktische Entscheidung von Acton vorauszugehen. Vielleicht ging es aber auch nur darum, dass ein Junge seinen besten Freund vor dem rauen Wind schützte. Was es war, wusste sie nicht. Dass sie Actons Verhalten nicht eindeutig einordnen konnte, irritierte sie. Aber was sollte es auch? Er war Acton, Kriegsherr und Mörder. Und er hatte eben einen Freund. Selbst die schlimmsten Männer konnten Freunde haben.
Jedoch nicht solche Freunde wie Baluch, gab eine Stimme in ihr zu bedenken.
In den folgenden zwei Stunden war kein Platz für weitere Gedanken. Der auf sie einprügelnde Wind und die Kälte ließen keine Abschweifungen zu, auch wenn Bramble ihre Sinne von Baluch
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