Die Hueterin der Geheimnisse
In seinem Blick lagen Verschmitztheit und Belustigung, und dies ließ Acton älter wirken, als er war.
»Hör auf!«, befahl er, wobei der Anflug eines Lächelns über sein Gesicht huschte. »Ich tanze nicht nach jemandes Pfeife!«
Baluch lächelte. Bramble bekam allmählich ein Gefühl für die Empfindungen dieses Jungen. Zum einen fand er es schade, dass sein Trick durchschaut worden war, zum anderen
aber freute es ihn auch, dass Acton an seiner Unabhängigkeit festhielt. Baluch wollte andere nicht wirklich beherrschen. Auf jeden Fall wollte er Acton nicht beherrschen. Dieses Gefühl kannte Bramble. Genauso hatte sie damals in Pless empfunden, als es um Acton, den Hengst, gegangen war. Für seine ungestüme Stärke berühmt und für niemanden zu reiten, war der Hengst in ihren Augen ein Symbol für ein Gefühl gewesen, das sie in sich selbst verspürte. Jedes Mal, wenn sie ihn angeschaut hatte, war sie froh darüber gewesen, dass sich ein Wesen nicht zähmen ließ, als ermögliche ihr dies eine ebensolche Unbezähmbarkeit. Baluch schaute Acton lächelnd an, und Acton erwiderte seinen Blick. Wie ein wahnsinniger Mörder sah er dabei nicht aus. Er sah aus wie ein freundlicher, energiegeladener Junge, der wusste, dass er sehr, sehr gut in Dingen war, besser als die anderen. Dadurch wirkte er zwangsläufig ein wenig arrogant. Er ist der Enkel eines Stammesführers, dachte Bramble in Erinnerung an die Worte der alten Frau gegenüber Elric Elricsson. Bei diesem Gedanken verstärkte sich ihre Abneigung gegen Kriegsherren. Diese war allerdings schwer aufrechtzuerhalten, als Acton Baluch in den Arm knuffte und sagte: »Wer als Erster an der Halle ist.«
Sie rannten gemeinsam los, Acton vorneweg, als das Wasser anstieg und Bramble erneut bedeckte.
Saker
Am nächsten Tag wandte sich Saker von der Three Rivers Domain nach Norden und steuerte flussaufwärts Pless an, hinein in die Central Domain. Am Abend zuvor hatte er seine Schriftrollen ausgiebig zurate gezogen und dabei eine Wanderroute geplant, die ihn zu sämtlichen Stätten von Massakern führen würde, die in den Liedern erwähnt worden waren, welche er von Rowan erlernt hatte. Es würde Wochen dauern, aber das war kein Problem. Zeit hatte er.
Dass er aus Carlion kam, würde er niemandem gegenüber erwähnen. Er war bloß ein Steinedeuter, der die Straßen entlangzog und nach Kunden Ausschau hielt, wie er es schon so häufig getan hatte.
Er überlegte, ob er den Geist seines Vaters Alder erwecken sollte, um ihm die gute Nachricht von Carlion zu berichten, doch er war zu müde dafür. Für Carlion war zu viel Blut nötig gewesen. Beim nächsten Mal würde er ihn erwecken, damit er zusehen konnte, wie die Eindringlinge starben. Sein Vater würde stolz auf ihn sein.
Es war ein schöner, trockener Tag, und die Landschaft der Central Domain war wunderschön. Saker summte vor sich hin, während sein Pferd im Passgang einherritt. Dass es noch Wochen bis zu den nächsten Morden dauern würde und er darüber froh war, gestand er sich nicht ein.
Martine
»Sollen wir sie bewegen?«, fragte Martine Safred.
Bramble lag lang ausgestreckt auf dem Felsen am Fuß des Altars. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Gesicht zeigte finstere, doch konzentrierte Züge. Sie zuckte und runzelte die Stirn.
Nach wie vor umgab sie der Nebel, und das Mondlicht breitete sich wie eine Decke aus Silber um sie herum aus. Martine war es unheimlich, auch wenn der Nebel von den Göttern kam.
Seit dem Moment, als Bramble wie zur Warnung aufgeschrien hatte und vor ihnen zusammengebrochen war, musste Martine gegen ein Gefühl der Empörung ankämpfen, gegen das Gefühl, dass kein Mensch durchmachen sollte, was Bramble durchstand. Ihre seherischen Fähigkeiten verrieten ihr, dass es mehr als nur Zeit und Raum verletzte; es veränderte auch Brambles Persönlichkeit und das Wesentliche dessen, was sie war. Wer wusste schon, wie diese Erfahrung sie verändern würde?
»Ich glaube, das müssen wir«, sagte Safred mit jenem Ausdruck auf ihrem Gesicht, der bedeutete, dass sie den Göttern zuhörte. Auch Martine hörte zu, doch obwohl sie ihre Gegenwart spüren konnte, hatten sie noch nie zu ihr gesprochen, nur durch die Steine. Sie war nicht wie ihre Tochter Elva, deren Geist so beiläufig von den Göttern benutzt
wurde, als schlüpften sie in einen Mantel. An die Götter, die sie in diesem Moment hören mochten, sandte sie ein Gebet für Elvas Sicherheit und die Sicherheit ihres Mannes Mabry und des Babys
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