Die Hueterin der Geheimnisse
das aufzugeben. Lieber wollte ich sterben, dachte ich. Dann aber schaute ich mich in der Halle um. Wir waren
zu neunt, wenn man Gudrun mitzählte, und ich hatte das Leben von sieben anderen Frauen in der Hand. Frauen unseres Gehöfts, für die meine Familie die Verantwortung trug. Die Hand meiner Mutter auf meiner Schulter verkrampfte sich und fiel dann ab, da sie es mir allein überließ, meine Entscheidung zu treffen. Ich entschied mich und hoffte, dass mein Leben kurz sein würde.
Also schaute ich diesen grünäugigen Mann an, und das tat ich mit den Augen der Macht. Es heißt, die Macht kam ursprünglich von den Göttern, und daran glaube ich auch. In diesem Moment war ich mehr als eine Frau in der Halle, mehr als ein Mädchen, das sich seinem Feind entgegenstellt. Ich war größer, unglaublich stark, unglaublich begehrenswert, unglaublich begehrend. Ich sah, wie sich seine Miene veränderte, und ich frohlockte.
»Ich werde mit dir gehen«, sagte ich in der Händlersprache, die mein Volk und das seine gemeinsam hatten. »Wenn du und deine Männer dieses Gehöft und all seine Menschen in Frieden lasst.«
Einer seiner Männer lachte. »Du wirst mit uns gehen, wenn es uns beliebt, und wir werden dich alle haben, bis du …« Hard-hand schlug ihm mit der flachen Seite seines Schwerts ins Gesicht, sodass er blutend zu Boden fiel und ihm die Zähne ausfielen. Von diesem Moment an wurde er Bloody-mouth genannt. Dabei hielt Hard-hand die ganze Zeit seinen Blick auf mich geheftet.
»Bereitwillig?«, fragte er. In dieser Frage lag so viel Verlangen, dass ich jubelte und es mir zugleich angesichts dessen, was es für Folgen hatte, speiübel wurde.
»Wenn alle in Sicherheit sind. Bereitwillig«, sagte ich bedächtig.
»So sei es denn«, sagte er. »Ich werde am Morgen kommen und dich in mein Haus begleiten, wo du zu meiner Frau
werden wirst.« Bei diesen Worten fielen seine Männer fast um vor Erstaunen, sagten jedoch nichts.
Langsam drehte er sich um und löste widerstrebend seine Augen von den meinen. Nachdem der Blickkontakt abgebrochen war, handelte er sehr zielstrebig, befahl seinen Männern draußen, sich zurückzuziehen, an dem Wasserlauf auf den Schafwiesen ein Lager aufzuschlagen und ihre gesamte Beute zurückzulassen. Sie beschwerten sich lautstark, wie es solche Männer tun, doch Gris mahnte sie zur Ruhe. Dieser Gris schaute mich mit einem seltsamen Blick an. Später, als ich mehr über Hard-hands Leben wusste, begriff ich warum. Schutzlosen Frauen gegenüber Gnade walten zu lassen war nichts, was irgendwer, der Hard-hand kannte, erwartet hätte.
Ich verbrachte die Nacht damit, meine Habseligkeiten zu packen und in den Armen meiner Mutter zu weinen. Doch am Morgen stand ich auf und zog mir meine Reisekleider an. Meine Mutter befestigte meinen Umhang mit ihrer besten Brosche, die in ihrer Jugend auf Geheiß meines Vaters Harald von Elric dem Ausländer als Verlobungsgeschenk angefertigt worden war.
»Du bist eine würdige Tochter einer großen Erbfolge«, sagte sie förmlich. »Mögen die Götter dich schützen und dich sicher wieder nach Hause geleiten.«
»Meine Mutter, lebe lang und stirb gesegnet mit Blutsverwandten, mit Besitz und Vermögen, mit Ruhm und Glück.«
»Ruhm werde ich sammeln durch dein Handeln, Glück bist du für mich bereits gewesen, Blutsverwandte sollen hier sicher leben, deinen Namen lobend erwähnen.«
Sie war stolz und voller Würde, aber ihre Augen füllten sich mit Tränen wie die meinen auch. Tränen des Kummers und der Furcht, denn wer wusste schon, was mich in dem Land der Fremden jenseits der Berge erwarten würde?
Die Bräuche unterscheiden sich, doch die Arbeit ist überall dieselbe. Was ich hinter den Bergen vorfand, war ein seltsames Leben, aber im Grunde war es so wie das, welches ich zurückgelassen hatte. Es gab dort keine Frauenunterkünfte oder Hallen für die Männer. Die Familien besaßen ihre eigenen Unterkünfte, und die Frauen lebten nur mit ihren Männern und Kindern in einem kleinen Haus zusammen. Das ist keine gute Art des Zusammenlebens, denn die Kinder stören die Männer, und die Männer stören die Frauen, und niemand hat je einen Augenblick, in dem er in Ruhe allein sein kann. Die Frauen sind von den anderen getrennt und können sich nicht gegenseitig Trost spenden und Rat geben. Die Erziehung der Kinder, das Kochen und das endlose Reinigen von Töpfen kann nicht geteilt werden. Das war anders. Die Kräuter, die sie zum Kochen und Einmachen
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