Die Hueterin der Geheimnisse
Flax erschrocken. »Dort herrscht doch die Wildnis!« Cam nahm seine Angst wahr und verlagerte ein wenig sein Gewicht.
Die Wildnis. Ash erschauerte. In der Wildnis galten die alten Vereinbarungen mit den Windgeistern und Wassergeistern nicht. Menschen waren dort Beute, leichte Beute. Die Wildnis war nicht wie der Große Wald, der seine eigenen Gesetze hatte. Es gab dort keine Regeln und keine Hilfe. Actons Leute mieden die Schluchten in der Nähe von Gabriston, weil sie diese für eine derartige Wildnis hielten, tödlich für Menschen. Tatsächlich waren diese Schluchten verhängnisvoll für alle, in deren Adern kein Wandererblut floss. Der Felsvorsprung vor ihnen war jedoch eine echte Wildnis, kein Ort für Dämonen. Im Vergleich zur Klippe war das Tal eine Oase. Aber auch in ihr würden sie wahrscheinlich Probleme bekommen.
Ash nahm Flax’ unaufhörliches Gesumme und Singen gar nicht mehr richtig wahr, weil er sich neben dem Reiten, das ihm nach wie vor schwerfiel, so sehr damit beschäftigte, sich alle möglichen Probleme vorzustellen und zu überlegen, wie er mit diesen umgehen konnte, falls sie tatsächlich auftraten.
Er konzentrierte sich so sehr auf mögliche Bedrohungen, die vor ihnen lagen, dass ihn die Rufe von hinten überraschten.
»He! Ihr da! Was glaubt ihr, was ihr da tut?«
Sie drehten sich beide auf ihren Sätteln um und sahen drei Männer hinter ihnen auf sie zureiten, auf Braunen, die, das erkannte selbst Ash, wunderschön waren. Die drei Männer war allesamt Rotschöpfe, Brüder, nach dem Aussehen zu urteilen, und sie saßen auf ihren Pferden, wie Bramble und Zel es taten, nämlich so, als wären sie darauf geboren worden.
»Wir können ihnen nicht entkommen«, sagte Flax leise. »Das sind Jäger.«
Ash nickte zustimmend. Also war es das Beste, dafür zu sorgen, dass sie gar nicht erst fliehen mussten.
Er hob die Hand zum Gruß.
»Die Götter seien mit euch«, sagte er höflich.
Der Gruß überraschte sie. Dann aber schauten sie auf sein dunkles Haar und seine dunklen Augen, und ihre Blicke verengten sich. Flax bewegte sich ein wenig nach vorn, und ihr Ausdruck hellte sich auf, als sie sein blonderes Haar und seine haselnussbraunen Augen sahen. Ash senkte den Blick. Sollten sie doch ruhig denken, er sei ein Knecht, wenn sie sich dann besser fühlten. »Stolz bringt dich nur um«, hatte ihn seine Mutter gelehrt, und sie hatte Recht.
»Zum Gruße«, sagte Flax freundlich und zwanglos.
»Was glaubt ihr denn, was ihr da tut, einfach so durch unser Land zu reiten?«, sagte der Älteste von ihnen streitlustig. Es hatte den Anschein, als spreche er immer so und nicht mit einer besonderen Bosheit.
»Entschuldigung«, sagte Flax. »Ich bin auf dem Weg nach Mitchen und dachte, das hier sei eine öffentliche Straße.«
»Warum nehmt ihr dann nicht die Hauptstraße?«
Flax machte eine Geste mit der Hand. »Es ist so schön hier, ich wollte einfach den Ritt genießen.«
Sie runzelten die Stirn. Wahrscheinlich war das eine schlechte Ausrede, dachte Ash. Der Jüngste der drei, beinahe noch ein Junge, sah Flax mit unverhüllter Bewunderung an. Flax lächelte ihm zu.
»Es ist wunderschön hier«, stimmte ihm der Junge zu, schob sich mit der Hand das Haar zurück und lächelte über das ganze Gesicht. Seine Brüder warfen ihm verdrießliche Blicke zu, obwohl sie offensichtlich alles über seine Vorliebe für junge Männer wussten, denn auf ihren Gesichtern war weder Verblüffung noch Abscheu abzulesen, sondern nur jener Blick, den Brüder aufsetzen, wenn ihr jüngster Bruder wieder einmal etwas Dummes anstellt. Der Älteste war jedoch nicht gewillt, es so einfach auf sich beruhen zu lassen.
»Was macht der hier?«, fragte er und starrte dabei Ash an.
»Er ist meine Schutzwache«, antwortete Flax. Das war eine geniale Idee. Sie wirkten verdattert, aber nicht ungläubig.
Den Blick nach wie vor gesenkt haltend, um nicht den Eindruck einer Bedrohung zu erwecken, fügte Ash hinzu: »Der junge Herr hier zieht gerne durch die Gegend. Sein Vater schickt mich, damit ich auf ihn aufpasse.« Er hob den Blick und wagte ein verschwörerisches Lächeln. »Ich soll dafür sorgen, dass er nicht in schlechte Gesellschaft gerät.«
Der Mund des zweiten Mannes zuckte, doch sein großer Bruder ließ sich nicht so leicht täuschen.
»Ein Wanderer, der kämpfen kann. Mir scheint, als hätte ich vor Kurzem so etwas gehört …«
Ash zuckte mit den Schultern, und Flax schaltete sich hastig ein.
»Wir waren oben
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