Die Hueterin der Krone
für den Sohn, der mit der White Ship untergegangen war und dessen sterbliche Überreste auf dem Grund des Meeres ruhten. Mönche von der großen Abtei von Cluny hielten die Gottesdienste ab, sprachen die Gebete und kümmerten sich um die Reliquien, zu denen Blut und Wasser zählten, die an den Seiten Jesu Christi herabgeronnen waren, ein Stück seines Schuhs und die Vorhaut vom Fest seiner Beschneidung. Und eine Locke vom Haar der Heiligen Jungfrau. Die beeindruckende Sammlung intimer Gegenstände der Heiligen Familie verliehen der Abtei große Bedeutung und eine sakrale Aura und sicherten ihrem Gründer und Wohltäter einen Platz im Himmel.
Nachdem die Hand des heiligen Jakob sicher der Obhut der Abteiverwalter übergeben worden war, zog sich Henry mit Matilda, Adeliza und ein paar engen Beratern und Familienmitgliedern, darunter Matildas Onkel David, dem König von Schottland, Robert of Gloucester und Brian FitzCount, in das Gästehaus zurück.
Matilda sog die frische Herbstluft tief ein, bevor sie die Unter kunft betrat, und stieß den Atem langsam wieder aus, um ihre Anspannung zu lindern. Als die Hand der Abtei feierlich zum Geschenk gemacht worden war, wären ihr während der Messe beinahe die Tränen gekommen, weil die Erinnerung an ihre Hochzeit mit Heinrich und ihr so nah und zugleich so fern erschienen war. Wenn sie nur die Zeit zurückdrehen, diese Jahre noch ein Mal mit dem Wissen einer reifen Frau erleben könnte und nicht als eingeschüchtertes kleines Mädchen.
Die Diener ihres Vaters rückten rund um den Kamin Stühle und Bänke zurecht und stellten Wein und Leckereien bereit. Ihr Onkel David bedachte sie mit seinem typischen lakonischen Lächeln, als ein Lakai ihr den Umhang abnahm.
»Du hast gut daran getan, der Abtei ein so kostbares Geschenk zu machen, Nichte. Deine Mutter wäre stolz auf dich gewesen.« Er sprach das normannische Französisch des Hofes, wobei entfernt das schottische R herauszuhören war.
»Sie hätte es als meine Pflicht betrachtet«, gab Matilda trocken zurück.
»Die du erfüllt hast.« Die Miene ihres Onkels drückte Ermutigung und einen Anflug von Humor aus. »Du bist ihre Tochter, aber in dir steckt noch mehr, und ich würde dich gern lächeln sehen.« Obwohl es unschicklich war, kitzelte er sie behutsam unter dem Kinn. »Ich hoffe, du bist auch meine Nichte.«
Diesen Gefallen tat Matilda ihm gern. Sie war ihrem On kel aufrichtig zugetan. Als sie ein Kind war, hatte er mit ihr gespielt und ihr später Briefe und Geschenke nach Deutschland geschickt, über die sie sich mehr gefreut hatte als über die langweiligen Ermahnungen bezüglich ihrer Pflichten und die Kopien lateinischer religiöser Werke, die ihre Mutter ihr zukommen ließ. Sie hatte Puppen, Süßigkeiten und eine mit schottischen Granatsteinen besetzte Halskette von ihm bekommen, die noch immer in ihrer Schmuckschatulle lag.
»Gut, dann sind wir uns ja einig.« Er küsste sie auf die Wange und führte sie zu einem Platz am Feuer.
Sowie alle Platz genommen hatten, bat ihr Vater um Ruhe.
»Nun, wo wir alle hier versammelt sind, möchte ich über die Zukunft sprechen.« Nacheinander musterte er jeden der Anwesenden. »Ich habe all die Jahre gehofft, die Königin und ich würden mit einem männlichen Erben gesegnet werden, aber bislang hat Gott uns diesen Segen verwehrt.«
Adeliza starrte auf ihre Hände hinab und spielte mit ihrem Ehering.
»So wie die Dinge liegen, muss ich über die Thronfolgefrage nachdenken. Meine Möglichkeiten liegen auf der Hand. In Ermangelung eines männlichen Erben muss meine Wahl entweder auf einen meiner Blois-Neffen oder auf meine Tochter und die mögliche Frucht ihres Leibes fallen.«
Matilda hob das Kinn und hielt seinem Blick herausfordernd stand.
Ihr Bruder Robert gab zu bedenken:
»Einige Parteien würden auch wünschen, dass Ihr William le Clito in Betracht zieht, Sire.«
»Nein.« Der König verwarf den Vorschlag mit einer unge haltenen Handbewegung. »Le Clito hat weder den Verstand noch die Erfahrung, um über England und die Normandie zu herrschen.«
»Aber andere verfügen an seiner Stelle über die nötige Erfahrung«, warf ihr Onkel scharfsinnig ein. »Der König von Frankreich unterstützt ihn, um Euch Steine in den Weg zu legen, und was ist mit dem jungen Mann in Ketten, den Ihr mitgebracht habt?«
»Waleran de Meulan ist ein hitzköpfiger junger Narr«, fauchte Henry.
»Mit einigen engen und mächtigen Verwandten.«
»Das ist richtig, aber Walerans
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