Die Hueterin der Krone
Reynald. »Ich habe sie in meinem Ranzen.« Er warf ihr einen viel sagenden Blick zu. »Sie wollen Theobald of Blois England und die Normandie anbieten. In Rouen haben sie darüber gesprochen, als wäre es schon beschlossene Sache.«
»Sie?« Matilda hob die Brauen.
Reynald senkte den Blick. »Der Erzbischof von Rouen, der Earl of Leicester, Waleran de Meulan und … unser Bruder Robert.«
Die Worte trafen sie wie ein Schlag. »Nicht Robert«, flüsterte sie.
»Ich glaube nicht, dass er eine Wahl hatte«, erwiderte Reynald verzagt.
Übelkeit stieg in Matilda auf. Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich, diese Männer, die sie so offenkundig für ein minderwertiges Geschöpf hielten, im Staub zermalmen zu können. Sogar ihr eigener Bruder, der ihr eine Stütze hätte sein sollen, schickte sich an, ihr in den Rücken zu fallen.
Sie löste die Riemen der ersten Schatulle. Darin lagen die Teile der Kaiserkrone, die sie aus Deutschland mitgebracht hatte. Als sie vorne behutsam den großen Rubin berührte, kam Warin Algason zu ihr. Seine Brust hob und senkte sich heftig, weil er die Turmtreppe hinaufgestürmt war.
»Herrin, Sire!« Er verbeugte sich flüchtig. »Ich habe Neuigkeiten. Stephen, Graf von Mortain, hat Anspruch auf den Thron von England erhoben, und der Bischof von Winchester hat ihm den Kronschatz ausgehändigt.«
Matilda zuckte zusammen, aber die Nachricht traf sie nicht unverhofft. Seit le Clitos Tod war Stephen ihr erbittertster Rivale im Kampf um den Thron, und seine Anhänger hielten sich schon lange bereit, endlich zuzuschlagen. Während sie abgewartet und mit ihrem Vater um die Burgen geschachert hatte, hatten die Gegner ebenfalls auf Zeit gespielt, aber sie waren näher am Kern des Geschehens und hatten alles heimlich organisiert, dass sogar Theobald, das Oberhaupt der Familie Blois, nichts bemerkt hatte. Nachdem Matilda die Krone zusammengesetzt hatte, nahm sie sie wie damals in Deutschland in die Hände. »So ist das also. Man bringt mir eine Krone, aber was ist mit dem Königreich?«
»Wenn wir schnell unsere Männer zusammenziehen und nach Norden reiten, können wir ihr Vorhaben im Keim ersticken.« Reynalds junge Stimme überschlug sich fast vor Eifer.
Matilda schüttelte den Kopf. »Dafür ist es schon zu spät. Wenn Stephen tatsächlich den Thron beansprucht und Zugang zu den Schätzen Englands hat, ist er bereits ein zu starker Gegner.« Abscheu zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. »Er wird sich mit dem Reichtum meines Vaters Gefolgsleute und Unterstützung erkaufen, aber wenn er alles verschleudert hat, werden sie ihn im Stich lassen.« Sie stellte die Krone auf die Schatulle. »Wir müssen jetzt abwarten und uns bereithalten.«
Nachdem Reynald gegangen war, ließ sie ihren Schreiber kommen, und während dieser seine Tintentöpfchen und Pergamentbögen sortierte, zeigte sie Henry die Kaiserkrone und die andere aus Goldblumen. »Eines Tages wirst du sie als König von England und Herzog der Normandie tragen. Das schwöre ich dir, mein Sohn.«
Das Gelübde war ihr einziger Hoffnungsschimmer in der Dunkelheit, aber es war eine Sache, ein Versprechen abzugeben, und eine andere, es auch in die Tat umzusetzen. Letzte Nacht hatte sie beim Kämmen die erste graue Strähne in ihrem Haar entdeckt, und sie fragte sich, wie viele es sein würden, wenn sie endlich eine gesalbte Königin war.
Es war schon spät, als Matilda sich endlich in ihre Kammer zurückzog. Ihre neuerliche Schwangerschaft verursachte ihr Übelkeit, und ihre Augen brannten, weil sie zu lange wach gewesen war und zu viele Tränen zurückgehalten hatte. Sie war erschöpft, aber zugleich zu aufgedreht, um schlafen zu können. Sie hatte Briefe an Verbündete und Vasallen, an den Papst und an ihren Onkel, König David, … und an Brian verfasst. Die Wortwahl musste noch überdacht und abgeändert werden, aber die Entwürfe waren fertig. Sie lehnte sich gegen einen Stapel Kissen und öffnete den Brief, den Adeliza den beiden Kronen beigelegt hatte.
Sie hatte ihn eigenhändig geschrieben, und obwohl sie sich der formellen Sprache einer Königin von England bediente, las Matilda den Kummer einer schwer geprüften Frau deutlich heraus. Sie selbst hatte bislang nicht um ihren Vater weinen können, aber nun entlud sich das Brennen in ihren Augen in einer Tränenflut, und sie musste den Brief beiseitelegen, weil Tropfen auf die Tinte fielen und die Worte verschmierten.
Adeliza schickte ihr diese Kronen, weil sie überzeugt war,
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