Die Hüterin der Quelle
säuerlich. Er war mit seinem Fuß an einen Kessel gestoßen, der nun durch das halbe Zimmer rutschte. »Man kommt sich ja vor wie ein Eindringling im eigenen Haus!«
»Lass mich meine Arbeit machen und erledige du deine«, gab sie zurück. »Das ist für uns beide das Beste.«
»Dein Tonfall war schon freundlicher.«
»Deiner auch«, sagte Marie.
Wortlos verzog er sich in die Werkstatt. Die Türe schlug fester hinter ihm zu als unbedingt nötig.
Marie machte sich wieder ans Scheuern. Ihr Vater hatte ihr erst neulich einen Eimer Sand aus dem Felsenkeller mitgebracht, kurz bevor sie sich auch mit ihm gestritten hatte, weil er nicht einsehen wollte, dass das Bernsteinherz ihrer toten Mutter nichts am Hals Hanna Hümlins zu suchen hatte. Wie zwei Kampfhähne waren sie sich gegenübergestanden, bis er schließlich grußlos das Haus verlassen hatte.
Was war nur mit ihr los? Wenn sie so weitermachte, würde sie binnen kurzem mit jedem in ihrer Umgebung verfeindet sein.
Theres Göhler, die bislang schweigend neben ihr geschrubbt hatte, warf ihr einen kurzen Blick zu.
»Ich komm auch allein damit zurecht«, sagte sie. »Dort drüben steht Sülze, Most und ein frischer Weißwecken. Könnt mir vorstellen, dass der Meister danach besser gelaunt ist.«
Marie zögerte kurz, bevor sie beschloss nachzugeben. Sie wusch sich die Hände und nahm die Schürze ab.
Als sie mit dem Imbiss in der Werkstatt stand, griff Veit hastig nach dem Tuch, das neben ihm lag, und warf es über den Kopf, den er auf der Bank eingespannt hatte. Nun erst recht neugierig geworden, kam Marie näher. Sie stellte Krug und Essen ab.
Dann trat sie vor den verhüllten Kopf.
»Was ist das?«, sagte sie.
»Nichts.«
»Nichts?«
»Ein Versuch, nichts weiter.«
»Wieso versteckst du es dann vor mir?«
»Wenn du es unbedingt wissen musst: Maria.« Veits Stimme schwankte zwischen Stolz und Trotz. »Die Gottesmutter. Aber noch lange nicht fertig. Deshalb.«
»Weshalb auf einmal so schüchtern? Das warst du bislang nie.«
»Ich habe etwas Neues ausprobiert«, sagte Veit. »Und über ungelegte Eier mag ich nicht reden.«
Sie legte den Kopf ein wenig zur Seite, wie sie es oft tat, wenn sie überlegte. Er drückte sich um die Wahrheit, das spürte sie, und er hatte Angst. Wovor? Ging es doch um diese Ava? Bislang war die andere nur ein Schatten gewesen, etwas Dunkles im Hintergrund, das sie ab und an beunruhigt hatte. Aber seit Kirchweih hatte der Schatten nicht nur einen Namen, sondern auch ein Gesicht.
»Nun gut«, sagte Marie. »Dann eben nicht.«
Sein Ausweichen hinterließ Spuren. Den ganzen Nachmittag über fühlte sie sich matt und dumpf. Obwohl es noch lange nicht Nacht war, glaubte sie plötzlich überall im Haus Francescas spöttisches Gesicht zu sehen. Ihre Unruhe wuchs. Und als Veit endlich die Werkstatt für kurze Zeit verließ, um einen neuen Schleifstein zu kaufen, ging sie sofort hinüber.
Alles erschien ihr unverändert. Der Boden war ordentlich gefegt; all seine Schnitzeisen steckten, der Größe nach geordnet, in der Ledertasche. Der neue Beitel lag griffbereit. Die Tür zum Nachbarhaus, wo das viel zu teuer angemietete Holzlager sich befand, stand offen. Der feine Duft der trockenen Linde stieg ihr in die Nase.
Wo war der Kopf abgeblieben, den er so eilig vor ihr versteckt hatte?
Marie schaute in jeden Winkel. Sogar im Holzlager sah sie sich gründlich um. Doch entdecken konnte sie ihn nirgendwo.
Der Schnee, der sie bei der Überquerung des Brennerpasses verschont hatte, überraschte die beiden, als sie das Werdenfelser Land durchquerten. Der klapprige Wallach, Adam Thies vom Brixener Priesterseminar für die Heimreise zur Verfügung gestellt, hatte bereits in Innsbruck gelahmt, und sie mussten ihn zum Abdecker bringen. Der Erlös reichte gerade für Fellhandschuhe, Mützen und ein paar Vorräte.
Ab da setzten Adam und Simon ihre Reise zu Fuß fort, eine Entlastung für Lucie, die genug an den Stoffen zu tragen hatte und mit den Hufen auf dem zunehmend glatten Boden immer öfter ins Rutschen geriet. Das Wandern, Seite an Seite, brachte sie ins Reden, wobei vor allem Simon erzählte, während Adam meist der Zuhörer war.
»Eigentlich weiß ich nichts von dir«, sagte Simon, als das Flockentreiben immer dichter wurde. »Du dagegen kennst inzwischen mein halbes Leben. Beinahe, als seist du dabei gewesen.«
»Bis auf die Dinge, die du vorsichtshalber für dich behalten hast.« Adam musste fast schreien, so stark wehte der Wind.
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