Die Hüterin der Quelle
altbekannte Angst stieg in ihr hoch. Sie bemühte sich, ruhig zu bleiben. Was sie erlebt hatte, war lange vorbei. Auch wenn sie jetzt ebenso schwanger war wie ihre Mutter damals.
»Die Frau vom Pacher – das ist eine ganz freche Lügnerin! Ich hab mit eigenen Augen gesehen, wie sie den Topf vor ihrem Haus verbuddelt hat. Das hab ich denen von der Kommission gesagt. Und sie haben mir geglaubt.« Er ließ sein Brot sinken und schaute sie an. »Der schwarze Prediger sowieso. Der weiß genau, dass ich die Wahrheit sage. Der andere, der, der neu in der Stadt ist, glaubt mir übrigens auch. Sonst hätten sie die Pacherin bestimmt nicht eingesperrt. Und dich werden sie nicht einsperren!«
»Dann bist du ja mein Schutz, Toni«, sagte Ava. »Mein großer Held!«
»Über dich wollen sie jetzt gar nichts mehr wissen. Ich soll nur noch über die Taube reden. Dabei weiß ich gar nicht viel über sie. Wahrscheinlich denken sie, dass sie Lenchen auf dem Gewissen hat.«
»Glaubst du das auch?« Ava stellte die Hafersuppe beiseite, damit sie nicht überkochte. »Hast du Selina schon einmal danach gefragt?«
»Nein. Wieso denn? Wenn sie es war, würde sie es mir doch bestimmt nicht erzählen.«
»Und wenn sie unschuldig ist?«
Das taube Mädchen war Veits Tochter, und vielleicht war das Kind, das in ihrem Bauch wuchs, ein Geschwisterchen. Vor ein paar Tagen hatte Ava zum ersten Mal eine Bewegung gespürt, ein zartes Flattern, das sich nach einer kurzen Pause wiederholt hatte. In der Nacht war es stärker geworden. Sie war ganz still liegen geblieben, die Hände auf dem Bauch, während ein starkes, warmes Glücksgefühl sie durchströmte.
Ava strich Toni über den Kopf, als sie jetzt wieder daran dachte, und der Junge, den die Tage im Bett noch magerer gemacht hatten, schien ihrer Hand geradezu entgegenzuwachsen.
»Mit dem Beschuldigen ist es so eine Sache, Toni«, fuhr sie fort. »Manchmal täuscht man sich. Das kommt häufiger vor, als man denkt. Man weiß etwas nicht genau, oder man zieht die falschen Schlüsse. Du willst doch sicher nicht, dass Selina für etwas bestraft wird, das sie nicht getan hat?«
»Nein, aber Lenchen und sie waren doch zuletzt im Felsenkeller! Und Selina wohnt doch in der Langen Gasse, dort, wo auch all die anderen Druten zu Hause sind.«
»Wer sagt so etwas?« Avas Augen blitzten. »Wer hat dir das über die Druten erzählt?«
»Das darf ich dir nicht sagen.« Toni senkte den Kopf.
»Hat das der schwarze Prediger verboten?«
Keinerlei Reaktion.
»Wenn du nichts sagen darfst, kannst du wenigstens nicken.«
Eine winzige Bewegung.
»Dein Prediger glaubt so fest an Druten, dass er sie überall sieht«, sagte Ava. »Wenn man so inbrünstig nach Zeichen sucht wie er, dann kann es schon mal geschehen, dass man …«
Toni hatte den Kopf gehoben, starrte sie mit aufgerissenen Augen an.
»Du weißt es?«, flüsterte er. »Aber ich hab doch gar nichts gesagt – nicht ein einziges Wort!«
»Was soll ich wissen, Toni?«, fragte Ava. »Wovon redest du?«
»Nichts.« Er sah aus, als hätte man ihn geprügelt. Dann fuhr er sich schnell mit der Hand über den Mund, als könne er damit das Gesagte wegwischen.
Bevor Ava noch etwas tun konnte, sprang er auf und rannte nach draußen.
Maries Augen und Haare kamen ihm blasser vor als früher, das Strahlende, Lebendige, das ihn früher so fasziniert hatte, fehlte. Dennoch lag eine Entschlossenheit in ihrer Haltung, die ihm gefiel.
»Herein mit dir!« Adam trat zur Seite. »Ich hatte dich eigentlich schon eher erwartet.« Er lächelte. »Der Fürstbischof hätte mich natürlich am liebsten im Jesuitenkolleg gesehen. Aber ich konnte ihn davon überzeugen, dass ich angesichts der besonderen Umstände in meinem alten Elternhaus besser untergebracht bin.«
Ihre Augen glitten durch den niedrigen Raum, der ihr bis auf ein paar Kleinigkeiten unverändert schien. Den großen Tisch, auf dem sich Aktenstöße und Dokumente häuften, hatte man wohl erst für ihn hereingetragen. Der dreibeinige Holzschemel davor sah unbequem aus. Und wie schmal ihr das Bett vorkam, das unter der Schräge stand! Marie war nur wenige Male hier oben gewesen, über dem Stall des Gasthauses Zum Blauen Löwen , wo Adam seit seiner Rückkehr wohnte, und sie errötete, als sie sich daran erinnerte.
»Vielleicht hätte ich besser nicht kommen sollen.«
»Was könnte verkehrt daran sein, einen alten Freund zu begrüßen?«
»Bist du das denn noch?« Marie musste die Hände zu Fäusten
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