Die Hüterin der Quelle
waren Kuni und ihre Bande beim Betteln.
Selina war zu überrascht, um rechtzeitig umzukehren, obwohl ihr Herz bei dem Anblick der vier Kinder wild zu schlagen begann. Sie wurde langsamer, aber sie bewegte sich noch immer auf die kleine Gruppe zu.
Toni sang offenbar, denn sie sah, wie er seinen Mund bewegte, während Kaspar wohl Lenchens früheren Platz übernommen hatte und mit der Bettelschale daneben stand. Lenz freute sich, sie zu sehen, das erkannte sie an seinen Augen, während Kunis Mund sich verächtlich verzog.
»Mörderin!«, spie sie ihr entgegen. »Hau ab!«
»Ich bin keine Mörderin«, sagte Selina und hoffte, dass ihre Stimme nicht zu schrill war.
»Mörderin«, echote nun auch Kaspar.
»Da hörst du es.« Kuni wirkte zufrieden. »Wir glauben dir nicht. Nicht einmal Lenz glaubt dir. Sag ihr, dass du ihr nicht mehr glaubst, Lenz!«
Der große Junge schwieg.
»Ich muss mit dir reden, Lenz.« Selina nahm ihren ganzen Mut zusammen. »Mit dir allein. Ohne die anderen.«
Sie hatte ihn erreicht, das sah sie an seinem Blick, der plötzlich auf ihr ruhte.
»Mit dir allein. Ohne die anderen«, äffte Kuni sie nach. »Da kennst du Lenz aber schlecht! Er redet nicht mit einer Mörderin!«
»Halt den Mund.« Lenz wandte sich an Selina. »Ist etwas passiert?«
»Ja. Sie haben meinen Vater verhaftet. Bitte, Lenz – nur einen Augenblick!«
»Dann gehen wir in den Dom. Da pfeift uns der Wind wenigstens nicht um die Ohren.«
Er ging voraus, und Selina folgte ihm rasch, denn sie spürte die Augen der anderen wie Pfeile in ihrem Rücken. Erst am Sarkophag der beiden Stadtgründer blieb er stehen.
»Also?« Seine Unterlippe zitterte leicht. Er war ebenso aufgeregt wie sie, das machte sie eine Spur sicherer.
»Ich hab Lenchen nichts getan«, stieß Selina hervor.
»Du mochtest sie nicht«, sagte er. »Das hab ich gleich gemerkt. Aber warum, Selina? Sie war doch so klein!«
»Nicht einmal angefasst hab ich sie. Ich mochte sie nicht, ja, das stimmt.«
»Was hat sie dir denn getan – ein kleines Mädchen, das ohne uns mutterseelenallein gewesen wäre.«
Eine heiße Welle durchflutete Selina. Aber sie sprach tapfer weiter.
»Ich war eifersüchtig auf sie. Weil Lenchen der Bankert meines Vaters war.«
Lenz starrte sie an, als sähe er sie zum ersten Mal.
»Deines Vaters? Wieso deines Vaters? Wie kommst du denn auf die Idee?«
»Das hast du mir doch selber gesagt.«
»Hab ich nie!«
»Hast du doch. Ich weiß sogar noch genau, wann und wo. In der alten Hechtmühle, als Lenchen so krank war.« Wieder wollte er etwas einwenden, aber Selina redete einfach weiter. »Außerdem hab ich es auch mit eigenen Augen gesehen. Ich hab es inzwischen sogar meiner Stiefmutter erzählt: Mein Vater war auch Lenchens Vater – und die Otterfrau Lenchens Mutter.«
»Das ist falsch. Lenchens Mutter hieß Gundel und hat in der Badstub geschafft. Sie ist schon lange tot. Und ihr Vater … das ist der alte Weihbischof. Der, der Toni immer in seiner Kirche singen lässt.« Ihm wurde ein bisschen mulmig, als er es ausgesprochen hatte, denn er musste an das Versprechen denken, das er Toni gegeben hatte. Aber schließlich hatte er Selina nichts von dem Mal erzählt. Und allein darum war es gegangen.
Sie starrte ihn an, mit blanken, fassungslosen Augen.
»Der dürre Mann mit dem schwarzen Bart?«
»Genau der.«
»Aber du hast doch gesagt …«
»Gar nichts hab ich!«
»Hast du doch!«
»Du kannst nicht besonders gut hören – du musst etwas verwechselt haben, Selina.«
Selina sank auf den Stein.
»Dann war es in Wirklichkeit ganz anders?«, sagte sie. »Lenchen war gar nicht meine Schwester?«
»Nein. Ja. Sie war das Kind ganz anderer Leute und ebenso wenig mit dir verwandt wie mit mir.«
Sie hielt sich die Hände vor das Gesicht, wünschte inständig, die Gabe zu besitzen, sich auf der Stelle unsichtbar zu machen.
»Was ist mit dir?«, sagte er nach einer Weile. »Ist dir schlecht?«
Sie schüttelte den Kopf, unfähig zu sprechen. Dann zog sie ihre Tafel heraus, begann zu schreiben.
Ich möchte sterben , las er. So sehr schäme ich mich .
Lenz wischte die Sätze energisch weg und nahm ihr die Kreide aus der Hand.
Eine Tote ist genug , stand da. Ich bin froh, dass du lebst .
»Wirklich?« Sie wagte kaum, den Blick zu heben, aber sie musste ihn doch ansehen, um von seinen Lippen lesen zu können. »Nach allem, was geschehen ist?«
Nach allem, was geschehen ist , schrieb er auf die Tafel.
»Ist das wahr?«,
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