Die Hüterin der Quelle
musste sie sich noch einmal vergewissern.
»Es ist wahr!«, bekräftigte Lenz. »Was wirst du jetzt tun, Selina?« Seine braunen Augen waren plötzlich ganz nah.
Am liebsten hätte sie ihn umarmt, ihre Wange an seiner gerieben und ihm tausend süße Dinge ins Ohr gesagt, aber dazu fehlte ihr der Mut. Sie schaute ihn lange an.
»Nach Hause gehen«, sagte sie schließlich. »Ich muss es meiner Stiefmutter erzählen.« Sie zögerte. Doch die Besorgnis überwog. »Und Kuni?«, fuhr sie fort. »Kuni glaubt mir doch im Leben nicht. Wird sie nicht …«
»Kuni kannst du ruhig mir überlassen«, sagte Lenz. »Lauf schon los. Allerdings würde ich dir als Ausgang die Adamspforte empfehlen.« Da war endlich wieder der Anflug seines Lächelns, das sie so schmerzlich vermisst hatte! »Dann läufst du ihr nicht direkt in die Arme.«
Lorenz Eichlers Augen brannten und tränten, so wenig Ruhe hatte er sich seit vielen Tagen gegönnt, bis er vorhin schließlich in einen erschöpften, traumlosen Schlaf gefallen war. Dafür war sein Herz mit Stolz erfüllt. Was da über seinem Arm hing, gut geschützt von dem groben Leinensack, war das schönste Messgewand, das er jemals gesehen hatte. Weiß wie das Licht, die Farbe Christi, durchwirkt von unzähligen Goldfäden, die den Glanz und die Unendlichkeit seiner Herrschaft symbolisierten.
Er war ohne Anmeldung auf dem Weg zum Weihbischof, aber das Risiko, nicht vorgelassen zu werden, erschien ihm gering. Dieses Mal würde Förner ihn nicht zurechtstutzen oder zurückweisen. Das Meisterstück aus seinen Händen musste selbst jemand wie ihn milde stimmen.
Beinahe hätte er aus Vorfreude gepfiffen, als er das Haus Förners erreichte, aber das ziemte sich weder für die vorweihnachtliche Fastenzeit noch für den hohen geistlichen Herrn, in dessen Diensten er endlich wieder stand. Lorenz Eichler brachte seine Gesichtszüge unter Kontrolle, atmete tief durch, klopfte.
Apollonia Krieger öffnete und beäugte ihn misstrauisch.
»Ich will zum Weihbischof«, sagte Eichler. »Sein neues Messgewand ist fertig.«
Bevor sie noch etwas antworten konnte, schob Gabriel Hofmeister sie zur Seite. Beleidigt zog sie sich ins Innere des Hauses zurück.
»Monsignore Förner ist nicht anwesend«, sagte der Sekretär. »Du kannst die Sachen mir aushändigen. Gib her!«
Er hatte Sachen gesagt! In Eichler zog sich alles schmerzhaft zusammen.
»Das werde ich nicht tun«, sagte er. »Wo kann ich den Monsignore finden?«
»Ich denke, er möchte allein sein.«
»Und ich denke, er wird überglücklich sein, das Messgewand zu sehen!«
Gabriel Hofmeister zögerte, dann entschloss er sich zu einer Antwort.
»Du findest ihn in seinem Gotteshaus. Wenn nicht vor dem Altar im Gebet, dann vermutlich oben auf dem Turm.«
»Ihr habt Turm gesagt?« Eichlers Augen traten leicht hervor.
»Turm«, bekräftigte Hofmeister ungerührt. »Soll ich dir die Sachen nicht doch lieber …«
»Bemüht Euch nicht!« Eichler hatte sich umgedreht und stapfte bereits in Richtung Kirche davon.
Der Sekretär sollte Recht behalten. Als Lorenz Eichler Sankt Martin betrat, fand er das Kirchenschiff leer. Für kurze Zeit klammerte er sich noch an die Hoffnung, den Weihbischof womöglich in der Sakristei anzutreffen, aber auch dort war Förner nicht. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Weg nach oben anzutreten.
Die Treppe war eng und steil; sorgfältig achtete er darauf, dass der Leinensack nicht die schmutzigen Wände streifte. Oben angelangt, stieß er keuchend die kleine Türe auf, die auf den Söller führte. Viel zu früh senkte sich bereits der Abend auf die winterliche Stadt, aber es war immerhin noch nicht zu dunkel, um die schmale Gestalt Förners vor der frisch gestrichenen Mauer sofort zu erkennen.
»Monsignore!« Eichlers Stimme klang erwartungsvoll. »Seht, was ich hier für Euch habe!«
»Was willst du denn hier?«, sagte er, ohne sich umzudrehen.
»Euch die Kasel bringen.« Der Stolz, das ungewöhnliche Wort über die Lippen zu bringen, als tue er es jeden Tag, war ihm anzuhören.
Förner war ungläubig zu ihm herumgefahren.
»Die Kasel, Euer Messgewand für Weihnachten!«, wiederholte Eichler. »Und drei verschiedene Alben aus feinstem Leinen. Außerdem einen Chormantel aus Brokat, ein halbes Dutzend Zingulums und zwei wunderbare Manipeln. Ihr werdet würdig darin aussehen, Monsignore. Wie ein himmlischer Bote.«
Förner starrte ihn finster an.
»Alles in strahlendem Weiß«, fuhr Eichler schon etwas
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