Die Hüterin der Quelle
ist doch Ratsherr und Hofbrauer und kennt viele einflussreiche Leute. Oder lieber gleich zum Fürstbischof – ja genau, das ist es! Wo dein Mann doch seine Krippe schnitzt …«
»Später«, sagte Marie. »Lauf erst zum Fasser Holbein, Theres, und hol Simon nach Hause!«
Kaum war die Göhlerin fort, begann auch Selina zu weinen. Marie wollte sie trösten, das Mädchen aber stieß sie weg.
»Das Schlimmste weißt du ja noch gar nicht«, brachte sie zwischen zwei Schluchzern hervor. »Aber ich weiß es. Ich weiß es schon sehr lange.«
»Was weißt du, Selina?«, fragte Marie. »Wenn es etwas über deinen Vater ist, musst du es mir sagen!«
»Aber dann wirst du mich hassen. Und ihn auch. So wie ich ihn hasse, seit ich es weiß. Wie konnte er mir nur so etwas antun? Und dir auch! Er hat …«
»Was hat er getan? Rede!« Sie musste an sich halten, um das Mädchen nicht zu packen und grob zu schütteln.
»Es geht um Lenchen. Die Kleine mit dem roten Häubchen.« Selina sprach so undeutlich, dass Marie sie kaum verstand.
»Das tote Kind im Felsenkeller?«, fragte sie.
Nicken. Selinas Tränen flossen stärker. Aber ihr wurde leichter dabei ums Herz, viel leichter.
»Was hat Veit damit zu tun?«
»Lenchen war sein Kind.«
Im ersten Augenblick glaubte Marie, sich verhört zu haben. Dann drangen die Worte in ihrer ganzen Wucht in sie ein.
»Sein Kind?«, wiederholte sie mechanisch. »Wieso sein Kind?«
»Sein Kind!«, bekräftigte Selina. »Und das der Otterfrau. Ich weiß es ganz genau. Lenz hat es mir gesagt. Und Lenz ist … war mein bester Freund. Außerdem hab ich sie auch gesehen. Alle drei, Lenchen, Ava und … ihn. Die ganze kleine Familie.« Sie spie die Worte aus, als verätzten sie ihren Mund.
Marie spürte Feuer in ihrem Kopf. Vor ihren Augen verschwammen die vertrauten Gegenstände. Es passte alles perfekt zusammen. Veits Heimlichkeiten. Sein ständiges Ausweichen. Die versteckte Maria, die Avas Züge trug. Was die Otterfrau bei ihrem Besuch angedeutet hatte. Dass er vor ein paar Tagen erst wieder im Morgengrauen nach Hause gekommen war. Aber wenn alles sich tatsächlich so verhielt, wie konnte er dann so kalt auf den Tod der Kleinen reagieren? Sie kannte ihn nicht, das war die bittere Wahrheit. Sie hatte keine Ahnung, wer der Mann war, an dessen Seite sie seit vielen Jahren lebte.
Selina starrte sie an, als hinge ihr Leben von ihr ab. Marie nahm den Schürzensaum, wischte ihr sanft die Tränen von den Wangen, und jetzt ließ sie es geschehen.
»Ich hasse dich nicht«, sagte sie. »Nicht dich, Selina. Es ist gut, dass du geredet hast, denn nun weiß ich endlich, woran ich bin.«
Selina nickte ungläubig.
»Ich hab sie nicht umgebracht«, sagte sie. »Das musst du mir glauben. Nicht einmal angerührt hab ich sie. Obwohl ich sie gar nicht leiden konnte. Sie war so störrisch. Und so ungezogen. Sie wollte nicht auf mich hören.«
»Sie war noch sehr klein.« Marie überschlug in Gedanken die Jahre, die Monate. Auch das passte. Sogar das.
»Ich wollte doch nur, dass sie ein bisschen Angst bekommt. Deshalb bin ich allein die Leiter hinauf. Ohne sie.« Ihre Augen wurden wieder feucht. »Sie sollte lernen, dass man mich nicht auslachen darf. Werden die Büttel jetzt auch kommen und mich holen – so wie ihn?«
»Das werden sie nicht«, sagte Marie, obwohl sie ganz und gar nicht davon überzeugt war. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie würde nicht als Erstes zum Vater laufen. Und auch nicht zu Adam. Es gab jemand anders, den sie zuvor zur Rede stellen musste.
»Ich muss noch einmal weg«, sagte sie. »Warte du hier auf Simon, und erzähl ihm, was passiert ist.«
»Zur Otterfrau?«
Dieses Mädchen konnte Gedanken lesen! Manchmal war Selina ihr richtig unheimlich.
»Ja«, sagte Marie. »Genau dorthin will ich.«
»Nimm mich mit – bitte! Ich möchte das Gesicht dieser Ava sehen, wenn du mit ihr redest.«
»Nein«, sagte Marie. »Das geht nur sie und mich etwas an.«
Der Fluss ächzte und stampfte, ein glänzendes dunkles Band, das sich machtvoll durch die weiße Winterlandschaft schlängelte. Ava konnte nicht so dicht am Ufer gehen wie gewöhnlich, weil die Wellen bereits vielerorts die Böschung überspült hatten, aber sie hielt sich trotzdem so nah am Wasser wie möglich, ohne nasse Füße zu riskieren. Sie hätte sich nach der einen Seite wenden können, wo die Regnitz ein Stück weiter in den Main mündete; aber sie hatte sich für die andere Richtung entschieden.
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