Die Hüterin der Quelle
schien Selina darunter zu leiden. Herauszubringen war wie gewöhnlich nichts aus ihr, aber Marie waren die wütenden Blicke nicht entgangen, mit denen sie Veit seit neuestem bedachte. Auffällig mied sie seine Nähe, wandte den Kopf zur Seite, wenn er ihre Wange streicheln wollte, und betrat nie die Werkstatt, wenn er darin arbeitete. Marie schrieb all das einer noch schwierigeren Phase als sonst zu, in der das Mädchen sich offenbar befand. Sonst hätte man fast glauben können, sie habe plötzlich Anlass, ihren über alles geliebten Vater zu hassen.
Irgendwann waren sie unter einigen Mühen zu dem zurückgekehrt, was man Alltag nennen konnte, wenngleich Selina sich mehr denn je von der Familie absonderte. Rastlosigkeit schien sie erfasst zu haben, stärker als jemals zuvor. Morgens verschwand sie aus dem Haus, ohne zu sagen, wohin, und kehrte erst zurück, wenn es dunkel wurde, schmutzig, mit Schrammen an Händen und Beinen, über die sie ebenso beharrlich schwieg.
Veit und Simon bewegten andere Sorgen. Eines Abends setzten sie sich zusammen, um zu beratschlagen, wie sie den Auftrag doch noch retten konnten. Die Teller waren abgetragen; die Göhlerin versorgte die Küche, bevor sie sich auf den Heimweg machte. Marie hatte sich Hanf und Werg vorgenommen und arbeitete am Rumpf verschiedener Krippenfiguren. Keiner schien etwas dagegen zu haben, dass sie zuhörte. Und so war schließlich sie es gewesen, die eine Reise nach Italien als rettende Idee in die Waagschale geworfen hatte.
Veit führte viele Gründe an, warum er nichts von dieser Idee hielt, aber als ihm schließlich die Argumente ausgingen und Simon zu reden begann, wurde schnell klar, dass es die beste Lösung war.
»Was haben wir zu verlieren? Der Fürstbischof hat es offenbar mit der Krippe nicht mehr allzu eilig. Ihn zu drängen erschiene mir sinnlos. Betrachte es doch einmal von der anderen Seite: Dadurch haben wir ein ganzes Stück Zeit gewonnen. Also macht es nichts, wenn ich eine Weile als Arbeitskraft in der Werkstatt ausfalle.«
Auch Veits Einwand, es sei zu spät im Jahr, um noch nach dem Süden aufzubrechen, wusste er zu entkräften.
»Der Brennerpass ist sogar im Winter begehbar, und wenn es einmal doch zu stark schneit, dann muss ich eben eine Pause einlegen. An der Stoffbörse in Verona werde ich bekommen, was uns noch fehlt. Und falls nicht, so wäre es nicht einmal bis Prato zu weit. Außerdem kann ich mich bei dieser Gelegenheit bei den Krippenschnitzern in Brixen umsehen. Wir müssen Neues wagen, Vater, etwas, das ihn wirklich überzeugt! Sonst werden wir bei Fuchs von Dornheim auf Dauer nicht gewinnen können.«
»Und du glaubst wirklich, du könntest bei diesen Gebirglern das finden, was der Fürstbischof für den ›Duft des Südens‹ hält?«
Es erstaunte Marie, dass er so zögerlich war, so voller Bedenken. Simon dagegen antwortete ungeduldig.
»Immerhin gelten sie als Meister der Tierschnitzerei. Vielleicht finde ich in ihrer Arbeit Anregungen, um unsere Szenen noch lebendiger zu gestalten. Es geht um den Austausch, Vater. Jeder, der reist, kommt mit frischen Ideen zurück.«
»Manchmal kann eine weite Reise auch eine Flucht sein, Simon. Und wenn es tatsächlich so wäre, dann wüsste ich gerne, wovor du wegläufst.«
Es hatte keine Antwort darauf gegeben, nur eine rasche, verlegene Geste Simons, die Marie sehr nachdenklich machte. Er trug etwas mit sich herum, lange schon, und sie hatte keine Ahnung, was es war. Nie hatte er auch nur die leiseste Andeutung gemacht. Dafür reichte sein Vertrauen, auf das sie stets so stolz gewesen war, offenbar nicht aus.
Er fehlte ihr – und nicht nur ihr. Ohne ihn wirkte Veit verloren, und Selina ging umher wie eine Schlafwandlerin. Selbst die kantige Verschlossenheit, die Simon an den Tag legen konnte, wenn ihm etwas nicht passte, vermissten sie auf einmal. Zu viert hatten sie trotz aller Gegensätzlichkeit eine Einheit gebildet, zu der jeder seinen Teil beigetragen hatte. Seit Simon fort war, war sie zerstört – und jeder von ihnen damit schutzloser als zuvor.
Die meisten fühlten sich unbehaglich, wenn sie überraschend zu einer Audienz nach Schloss Geyerswörth gerufen wurden. Josef Grün schien nicht dazuzugehören. Der alte Jesuit wirkte gelassen. Nicht einmal die lange Wartezeit, bis man ihn endlich vorließ, schien ihm etwas auszumachen. Er nutzte die Zeit für eine seiner Konzentrationsübungen und erfreute sich anschließend am Rosen- und Dahlienschmuck des
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