Die Hüterin des Evangeliums
Manche von ihnen erduldeten still ihr Schicksal, andere wimmerten verzweifelt, und viele schrien, bis ihnen ein Knebel in den Mund geschoben wurde. Im Zickzack war sie durch die Stadt marschiert, hatte bei Stiftungen vorgesprochen, in Krankenhäusern, Altenspitälern und im Almosenamt gefragt, ob Titus Meitinger irgendwo aufgetaucht sei. Selbst vor den Siechenhäusern hatte sie nicht haltgemacht, ihre Verzweiflungüberstieg die Furcht vor einer Ansteckung mit Lepra. Dabei war eher unwahrscheinlich, dass sich ihr Schwiegervater im Kreis von Aussätzigen befand. Und deshalb kehrte Christiane mit blutenden Fersen und ruinierten Schuhen nach Hause zurück – immer noch ohne den alten Titus.
»Der Herr aus Frankfurt war hier und hat nach Euch gefragt«, meldete die Magd und betrachtete missbilligend Christianes mitgenommene Erscheinung. »Ich soll Euch ausrichten, dass er morgen wiederkommt.«
»Ich habe keine Zeit«, murmelte Christiane, ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen, schob die Röcke hoch und rieb sich gänzlich undamenhaft die schmerzenden Sohlen und Fußballen.
Wie gern hätte sie ein Bad genommen! Was ist das für eine Kirche, die mir das verbietet, weil ich Witwe bin?, fragte sie sich still. Was war das überhaupt für eine Welt, in der sie ebenso verzweifelt wie vergeblich nach einem alten Mann suchte, der ihr niemals etwas Gutes gewollt hatte, für dessen Wohlergehen sie sich in diesen Stunden der Not jedoch verantwortlich fühlte? Wenn Severin nur ein wenig besonnener gewirtschaftet und sich nicht mit seinem Mörder eingelassen hätte ...
»Ihr solltet dem Herrn aus Frankfurt eine Nachricht schicken«, unterbrach die Magd Christianes düstere Gedanken. »Ich hab keine Zeit, mich andauernd um Euren Besuch zu kümmern, wenn Ihr nicht im Hause seid. Ans Tor zu gehen, hält mich von der Arbeit ab – und davon, auf den Buben aufzupassen. Der ist in einem Alter, in dem er alles Mögliche anstellen kann, wenn man nicht ständig ein Auge auf ihn hält. Ihr solltet ihn festbinden.«
Nicht die Impertinenz der Frau machte Christiane sprachlos, sondern deren letzter Ratschlag. Sie dachte an das, was sie im Irrenhaus des Heilig-Geist-Spitals gesehen hatte, sieglaubte sogar, der Geruch stieg ihr wieder in die Nase, der über der Anstalt gehangen hatte wie eine dichte Nebelwand über einem Feld am Morgen. Der kleine Johannes würde ganz gewiss nicht behandelt werden wie die Geisteskranken.
»Noch ein Wort«, brach es schließlich zornig aus ihr heraus, »und du verschwindest. Dann kannst du zusehen, wie du in deinem Alter noch eine Anstellung findest, die dir ein Auskommen bietet und die Freiheit gibt, dich zu deiner Herrin schlecht zu benehmen.«
Erschrocken erstarrte die Magd. Sie blickte Christiane an, ihre Miene war von Entsetzen gezeichnet. Als sich Christiane nicht rührte und auch nichts weiter sagte, schluckte die alte Frau und wandte sich dem Wasserkessel zu, der wie immer auf dem Ofen stand, in dem noch die Asche glühte. »Ich mach Euch einen Aufguss aus Basilikumblättern«, erklärte sie in deutlich verändertem, freundlichem Ton. »Basilikum schützt vor Unheil und ist ein Sorgenbrecher. Das wird Euch guttun.«
»Hm«, machte Christiane, die sich auf die Wirkung des Getränks nicht ausschließlich verlassen wollte. Um ihre Probleme zu lindern, bedurfte es anderer Mittel als eines wohlriechenden Gartenkrauts.
In einem Punkt hatte ihre Dienerin allerdings recht: Sie würde Wolfgang Delius ein Billett schreiben und erklären müssen, dass sie morgen keine Zeit für ihn und die Fälschungen haben würde. Sie hatte Delius zwar zugesichert, ihm die Texte nach Marthas Beerdigung zu geben, aber das konnte noch einen Tag warten. Ein leises Bedauern schlich sich ein, das nichts mit dem gebrochenen Versprechen zu tun hatte. Zu ihrem eigenen Erstaunen wurde ihr bewusst, wie sehr es sie gefreut hätte, ihn heute angetroffen zu haben. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie ihm bei ihrer letzten Begegnung Getratsche mit seinem Freund unterstellt hatte. Sie hatte sich wie eine Hure gefühlt, als sie bedacht hatte, dass Bernhard Ditmoldauf diesem Wege von ihrem Kuss erfahren haben könnte. Erst im Nachhinein fiel ihr auf, wie ungerecht sie gewesen war. Wenn Marthas Gespür richtig gewesen war, hatte Delius vielleicht aus einem ganz anderen Grund über Christiane gesprochen. Womöglich gab es noch Hoffnung für ihre Zukunft.
43
Georg Imhoff hob Christianes Hand an seine Lippen. »Ich schätze mich glücklich,
Weitere Kostenlose Bücher