Die Hüterin des Evangeliums
die Werkstatt aufräumen. Wenn die Schuldeneintreiber kommen, sollen sie nicht sagen, Meitingers Druckerei sei ein Chaos ...«
»Und die Fluchtafel, Herrin?«
»Ich werde einen Exorzisten holen, der sich darum kümmert.«
Karl starrte sie aus seinem unverletzten Auge voller Bewunderung an. »Ihr seid sehr tatkräftig, Herrin.«
»Nein, höchstens tapfer. Ich möchte die Tragödie unbeschadet überleben. Das ist alles.«
42
Als die Dämmerung dem Morgen wich und die Magd zur Arbeit erschien, machte sich Karl bereits in der Werkstatt zu schaffen, und Christiane war ausgehfertig. »Ich lauf rasch zum Heilig-Geist-Spital und frage nach, ob der alte Meister dort ist«, erklärte sie.
Die Magd blickte ihre Herrin argwöhnisch an. »Warum schickt Ihr keinen Laufburschen?«
Christiane seufzte. »Weil jemand Titus Meitinger suchen sollte, der ihn kennt. Vielleicht ist der alte Meister krank und weiß seinen Namen nicht mehr. So etwas kann vorkommen ... Ach, und noch etwas: Halte ein Auge auf den kleinen Johannes, solange ich fort bin.«
Im Kopf der alten Frau arbeitete es. Das war deutlich erkennbar. Offensichtlich war sie hin und her gerissen zwischen ihrer Ergebenheit zu Christianes Schwiegervater und dem tiefsitzenden Widerwillen, jeden Befehl der jungen Herrin klaglos auszuführen. »Die Kinderfrau ist weg, und ich habe alle Hände voll zu tun«, jammerte sie.
»Ja, so ist es«, stimmte Christiane emotionslos zu. »Und wenn du nicht gut auf den Buben achtgibst, wie ich es dir auftrage, hast du bald gar nichts mehr zu tun ... Ade«, ohne eine Antwort abzuwarten oder auch nur über die Schulter zurückzuschauen, rauschte sie die Treppe hinunter. Ein wütendes Pfannenklirren folgte ihr.
Eigentlich konnte Christiane es kaum abwarten, Georg Imhoff zu treffen. In den vergangenen, schlaflosen Nachtstunden hatte sie überlegt, ihm eine Nachricht zu schicken und sofort um den versprochenen Ausflug zu bitten, doch die Sorge um den alten Titus war größer gewesen als ihre Neugier. Außerdem: Wenn sie Severins Vater fand und dieser noch bei Verstand war, würde er ihr ausführlich Auskunft über Meitingerserste Frau geben müssen, dafür würde sie schon sorgen. Ausgestattet mit diesem Wissen, würde das Gespräch mit Imhoff sicher anders verlaufen. Schließlich wusste sie nicht, in welcher Beziehung er zu seiner Schwester gestanden hatte. Christiane nahm an, dass das Verhältnis eher schwierig geworden war, nachdem sie sich von der Sekte hatte blenden lassen. Da Christiane den Dichter weder verärgern noch verletzen, sondern vor allem um eine Unterstützung für Sebastian Rehms Sohn bitten wollte, war ein wenig Rücksicht geboten.
Christianes Ziel war nicht einmal eine Meile entfernt, aber an diesem frühen Morgen hatte sie Mühe voranzukommen. Die Abortkehrer bevölkerten die Gassen, mancherorts waren die Inhalte der Nachttöpfe zwar auf die Straße gekippt, aber noch nicht fortgewischt worden. Abwasser sammelten sich zwischen den Pflastersteinen zu kleinen, stinkenden Lachen, an die in wenigen Stunden sicher nur noch feuchte Flecke erinnern würden. Händler mit vollbeladenen Karren waren auf dem Weg zum Fischmarkt oder dem Stadtmetzg, Lasttiere zogen Wagen, deren Deichseln unter den schweren Fässern ächzten. Die Almosenerschleicher flohen vor der Sonne und dem Rat in finstere Ecken oder nach Oberhausen jenseits der Stadtmauer, wo sie vor dem Zugriff durch die Gassenknechte und der Ausweisung geschützt waren. Dafür bevölkerten nun langsam wieder Söldner und Reisende die Straßen, die ihre Herbergen verließen und der Innenstadt entgegenstrebten und Christiane, die in entgegengesetzter Richtung unterwegs war, im Weg standen. Sie wich anerkennenden Pfiffen und anderen Zudringlichkeiten geschickt aus, umrundete die Gläubigen, die sich zur Morgenmesse vor St. Ulrich und Afra versammelten, und erreichte schließlich atemlos den Milchberg, hinter dem sich das Heilig-Geist-Spital befand.
Die Anstalt war in den Räumen des einstigen Klosters St. Margareth untergebracht, welches dasselbe Schicksal ereilthatte wie St. Katharina – das Dominikanerinnenstift war im Zuge der Reformation geschlossen worden. Dennoch betrachtete Christiane die Gänge und Räume mit einer Mischung aus Argwohn und Spannung, denn es bestand die Möglichkeit, dass sie mangels eines zweiten Ehemanns ihr Dasein an einem vergleichbaren Ort würde fristen müssen. Nicht in einem Spital zur Versorgung von Alten, Kranken und Irren, aber die Zukunft in
Weitere Kostenlose Bücher