Die Hüterin des Evangeliums
und tat ihrer guten Laune keinen Abbruch.
Goldene Sonnenflecken schienen durch das Blätterwerk, als sie in einen Wald einritten. Christiane hatte ihr Zeitgefühl verloren und wusste nicht, wie lange sie schon unterwegs waren. Ein leises Magenknurren erinnerte sie daran, dass sie gerne einen kleinen Imbiss zu sich genommen hätte. Der Gedanke an Essen war in den vergangenen Tagen stets fern gewesen, und zum ersten Mal spürte sie ihren Hunger, was sicher mit der Sorglosigkeit zusammenhing, mit der sie sich den Bewegungen des Rosses angepasst hatte. Doch mit dem menschlichenBedürfnis kehrte die Erkenntnis zurück, dass sie mit Georg Imhoff unterwegs war, um einige Fragen zu klären, und nicht um des Vergessens willen. Außerdem wollte sie derart schwerwiegende Erörterungen lieber nicht von einem Pferderücken aus tätigen.
»Wie wäre es mit einer kleinen Rast?«, rief sie ihm über den Hals ihrer Stute zu.
»Auf der nächsten Lichtung«, versprach er.
Tatsächlich zügelte er seinen Schimmel, kaum dass sich die Baumgruppe lichtete. Mit einigen geschickten Gesten gab er dem Knecht zu verstehen, dass er sich auf einem schattigen Fleckchen auszuruhen gedenke. Zu Christianes größter Überraschung nahm der Bursche eine Flasche und zwei Becher aus seinem mitgeführten Beutel sowie eine duftende Pastete und einen Laib Brot. Sie hatte eher an den Besuch eines Gasthauses gedacht.
Dennoch zufrieden, hockte sie sich ins Gras. »Ihr habt an alles gedacht«, lobte sie.
»Ja, an alles«, bestätigte Imhoff ernst und kontrollierte aufmerksam den Knoten, mit dem er die Zügel seines Pferdes an einen Ast gebunden hatte. Dann wandte er sich zu Christiane um. »Ich habe Euch schließlich einen besonderen Ausflug versprochen«, fügte er – noch immer ohne ein Lächeln – hinzu und ließ sich neben ihr nieder.
Sein herbes Auftreten irritierte sie. Was mochte ihm wohl die Laune verdorben haben? Seine unerklärlichen Stimmungsschwankungen waren ihr bereits bei ihrem peinlichen Besuch in seinem Haus aufgefallen, als er Titus Meitinger des Mordes an seinem Sohn verdächtigt hatte.
Seltsam, dachte Christiane, dass sie ihm anfangs ohne Vorbehalte geglaubt und die Spur ihres Schwähers dann aus anderen Gründen verfolgt und den schlimmen Vorwurf zeitweise überhaupt nicht mehr in Betracht gezogen hatte. Sei vorsichtig,fuhr es ihr mahnend durch den Kopf, Georg Imhoff kann Menschen beeinflussen und mit ihnen spielen, wie er will. Bedenke nur, wie er Sebastian Rehms Talent ausnutzte.
Sie drehte den Becher in den Händen, in den Imhoff gerade Wein gefüllt hatte, der so golden war wie das Sonnenlicht über ihr. Energisch beschloss sie, das Gespräch auf ihre Witwenschaft zu lenken, die ja die Folge eines grausames Todes war: »Bald werde ich nicht mehr die Freiheit haben, tun und lassen zu können, wonach mir der Sinn steht.«
Er hob erstaunt die Brauen. »Nicht? Wer sollte Euch daran hindern, mit einem alten Freund einen Becher Wein zu trinken?«
»Mein Vater. Oder die Mutter Oberin in dem Kloster, in das er mich wahrscheinlich stecken wird. Wenn erst die Schuldeneintreiber kommen, bleibt mir nicht mehr viel.«
»Ihr solltet Euch keine Sorgen um die Zukunft machen, es ist ohnehin alles vorbestimmt. Niemand kann sich dem Weltuntergang entziehen.«
»Dem Weltuntergang?«, wiederholte sie verblüfft und blinzelte in die Sonnenstrahlen. »Welchem Weltuntergang?«
»Ich glaube Euch nicht, dass Ihr die Offenbarung des Johannes nicht kennt. Ihr wisst sicher, dass darin der Weg zu einem göttlichen Leben ohne Krankheit, Tod und Leid klar beschrieben worden ist. Der Teufel und die Staatsmacht, die Stadt als Hure und die Verblendung der Gläubigen werden in der Apokalypse ebenso beschrieben wie die Auflösung in Gerechtigkeit.«
Sebastian hatte ihr gesagt, dass Martin Luther mit den endzeitlichen Gedanken des prophetischen Buchs im Neuen Testament wenig anzufangen verstanden hatte und dass die darin enthaltenen Thesen inzwischen auch bei Katholiken auf Kritik stießen. Seltsamerweise erinnerte sie sich plötzlich an jedes Wort, das Sebastian dazu doziert hatte, als stünde er neben ihr.
Wieso sprach Georg Imhoff dieses Thema an? Was sollte das Gerede von Weltuntergang an einem schönen Tag wie diesem? Wer hatte ihr erzählt, dass der Glaube einer bestimmten Sekte darauf beruhte?
Verwirrt trank sie von dem schweren, süßen Wein. Unwillkürlich wurde ihr schwindlig. Sie hatte noch nichts gegessen, und das Getränk war zu stark für
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