Die Hüterin des Evangeliums
setzte er sein Horn ein, um sich den Weg frei zu blasen. Dann stand er atemlos vor dem jungen Verleger, in der Hand einen Brief schwenkend. »Ein dringendes Schreiben ... In Eurem Offizin wurde mir gesagt, dass ich Euch am Rathaus finde ...«
Wolfgang wunderte sich, dass ihn der Mann inmitten der unübersichtlichen Menschenmenge erkannt hatte, machte sich aber nicht weiter die Mühe, sich danach zu erkundigen.Vielleicht gab es Vertreter einzelner Berufe, die sich Gesichter besser merken konnten als andere. Immerhin dankte er dem Postboten mit ein paar Münzen, die weit über die Bezahlung des Beförderungsgeldes hinausgingen.
Er trat vom Platz fort und unter eines der Holzvordächer des Römers, warf einen Blick auf das Kuvert. Wer es so eilig hatte, ihm ein Billett zu schicken, musste ein wichtiges Anliegen haben. Das Schreiben war an seinen Vater adressiert. Einen Eilbrief an einen Mann zu senden, der vor vier Monaten verstorben war, zeugte jedoch von keiner besonderen Dringlichkeit.
Achselzuckend brach Wolfgang das Siegel – dann kam ihm die Schrift vage vertraut vor, und schließlich erkannte er bereits an den ersten Worten des Textes den Absender. Der Verrückte aus Augsburg meldete sich wieder, wahrscheinlich, weil er es nicht ertrug, ohne Antwort geblieben zu sein. So waren sie wohl, die armen Menschen, die von Gott mit dem Irrsinn geschlagen waren.
Wolfgang wollte das Papier schon ungelesen zerreißen, als seine Aufmerksamkeit plötzlich gefesselt wurde. Er konzentrierte sich auf jede Zeile, vergaß zunehmend seine Umgebung und konnte am Ende nicht fassen, was er da vor sich hatte:
»Verehrter Herr Delius,
verzeiht mir, wenn ich nochmals in Euch dringe. Ihr seid der einzige Mensch weit und breit, der mir helfen kann. Eure Reputation bezüglich der Herausgabe theologischer Werke reicht über die Grenzen Eurer Stadt. Ich wüsste niemand Besseren, an den zu wenden sich lohnte. Deshalb bin ich so impertinent und wage es, Eure Zeit auf ein Neues zu stehlen.
Vielleicht hatte ich mich in meinen vorigen Briefen nicht deutlich genug ausgedrückt, um Euer Interesse zu wecken.Wahrscheinlich war mein Manuskript Eurer fachkundigen Meinung auch nicht würdig. Oder Ihr habt von Anfang an erkannt, dass es sich um eine Fälschung handelt. Ja, gewiss, um einen Betrug, der im Auftrag eines anderen von meiner Hand verfasst wurde. Fragt mich nicht, warum ich zum Betrüger wurde, fragt mich vielmehr, welcher Teufel in meinem Leib steckt, der mich ein Werk schreiben ließ, welches aus der Feder des Reformators geflossen sein soll. Ich bin stets stolz darauf gewesen, Protestant zu sein, doch nun habe ich meinen Glauben verraten, indem ich Martin Luther Worte in den Mund legte, die der ehrwürdige Doktor nicht einmal zu denken vermocht hatte.
Mir ist bekannt, dass bereits damals Fälschungen kursierten, nachdem Martin Luther im Jahre achtzehn aus Augsburg geflohen war. Als Kind hörte ich meine Eltern davon sprechen. Es erschienen verschiedene Versionen über die Diskussionen zwischen dem Reformator und dem Gesandten des Papstes – zensiert oder nicht, kopiert, beschönigt, entstellt oder nicht – Schriftstücke jedweder Art waren im Umlauf, auch die Originale. Die Wahrheit ist auf jeden Fall, dass Luther nicht widerrief. Doch hier liegt der Schlüssel zu dem Betrug, dessen man mich verpflichtete: Wenn ein Werk auftauchen würde, in dem sich Martin Luther von seinen eigenen Thesen distanzierte und ›revoco‹ ausriefe, könnte dies die gesamte Christenheit erschüttern – und den angestrebten Religionsfrieden vernichten. Es würde wieder zum Krieg kommen, Blutvergießen, Tod.
Ich befürchte, dass ich vergiftet werde und nicht mehr lange zu leben habe. Wer meine Auftraggeber sind, kann ich Euch nur sagen, wenn ich mich Eures Vertrauens versichert habe. Verzeiht mir diese Unzulänglichkeit, aber sie ist auch zu Eurem Schutz.
Vergesst, was ich geschrieben habe, wenn Euch die Sache zu unglaubwürdig erscheinen mag, um sie zu verfolgen. Ich habe versucht, zu retten, was noch zu retten ist. Wenn mir dies nichtgelingt, ist die Welt verloren – und ich mit ihr, aber das spielt dann ohnehin keine Rolle mehr.
In tiefster Verehrung und Hochachtung
gez. Euer ergebenster Diener
Sebastian Rehm.«
Nachdenklich fuhr sich Wolfgang mit der Hand über die Augen. Er ließ den Brief sinken, starrte ins Leere und fragte sich, was von diesem Schreiben zu halten war.
Sebastian Rehm konnte natürlich ein Verrückter sein. Ein
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