Die Hüterin des Evangeliums
Fuhrwerk, das von einem dürren Pferd gezogen wurde. Severin Meitinger hatte es in irgendeinem Mietstall ausgeliehen, und Anton schleppte Marthas Hausrat auf die Gasse und die Habseligkeiten dann auf die Ladefläche des Gefährts. Dabei ging er nicht sonderlich vorsichtig zu Werke, und in den Kisten und Truhen schepperte und klapperte es bedenklich. Bereits ein oder zwei Mal hatte Christiane den Druckerlehrling zu mehr Achtsamkeit ermahnen müssen, doch der Transport zerbrechlicher Güter war seine Sache nicht.
Martha reagierte indes mit Gleichmut. Sie schien seit Sebastians Tod sehr viel mehr in Schwermut versunken, als ihr Mann zu Lebzeiten darunter gelitten haben mochte. Christiane beobachtete mit Sorge, wie sich die junge Witwe von allen Alltagsproblemen zurückzog. Selbst ihre gewohnt liebevolle Zuwendung für den kleinen Johannes schien unter ihrer Trauer zu leiden. Auch das Kind unter ihrem Herzen war ihr offenbar kein Trost. Statt in die Zukunft zu schauen, wie esnötig wäre, ertrank Martha in einem Meer aus Tränen, Erinnerungen und Tatenlosigkeit.
»Glaub doch nicht den Unsinn, den irgendwer verbreitet. Niemand stirbt von einem Tag auf den anderen an der Melancholie«, entgegnete Christiane, obwohl sie sich ihrer Sache nicht ganz sicher war. Wenn sie Marthas bleiches Gesicht betrachtete und in die tiefliegenden, umschatteten, rot geränderten Augen sah, schien der Beweis für das Gegenteil ihrer Behauptung erbracht. Martha wirkte wie bereits vom Tod gezeichnet.
»Es ist doch aber bekannt, dass Trübsinn die schwarze Galle verbrennt und diese dann ins Blut befördert. Bluterbrechen und Blutdurchfall sind in der Regel die Folgen dieses Vorgangs«, beharrte Martha mit ihrer erschreckend tonlosen Stimme. »Ich hätte viel früher den Teufelsaustreiber holen müssen. Der Pater der Gesellschaft Jesu hätte Sebastian vielleicht retten können.« Stumme Tränen liefen aus ihren Augen, aber das schien sie nicht einmal zu bemerken.
Christiane hätte sie am liebsten bei den Schultern gepackt und die Unvernunft aus ihrem Körper geschüttelt. Ihre Finger krallten sich stattdessen in ein vom vielen Waschen fadenscheiniges Bettlaken. Der Tod eines nahestehenden Menschen machte die eigenen Unzulänglichkeiten immer deutlich sichtbar. Doch Marthas angebliches Versäumnis war ein Irrtum. Das, was über Sebastian Rehm geredet wurde, war üble Nachricht – und am schlimmsten erschien es Christiane, dass sich seine Witwe auf ihre Weise daran beteiligte.
Sie hatte ihr zwar anvertraut, dass Sebastian seit einer Weile den Teufel vor dem Fenster zu sehen geglaubt hatte – eine Gestalt in der Maske Luzifers, bekleidet mit einem schwarzen Fell. Aber Martha hatte damals ebenso wenig an diese Erscheinung geglaubt, wie Christiane es heute tat. Dennoch hatte sie nicht widersprochen, als Sebastian um einen Besuchvon Pater Ehlers gebeten hatte. In die Wünsche eines Sterbenden fügte man sich, selbst wenn dieser nach einem Exorzisten rief.
Es war nicht von der Hand zu weisen, dass insbesondere diese Geschichte für einen melancholischen Anfall sprach. Dennoch erschien es Christiane unvorstellbar, dass sich Sebastian Rehm, der ein liebender Ehemann und fürsorglicher Vater gewesen war, einfach so aus dem Leben geschlichen haben sollte. Es hatte zwar eine Menge Gründe für seine Schwermut gegeben, aber Glücklosigkeit allein war in der Regel nicht tödlich.
»Er kann ebenso gut an Auszehrung, Wurmfieber oder einem Blutsturz gestorben sein. Das ist viel wahrscheinlicher als irgendeine Erkrankung des Geistes«, erklärte Christiane trotzig.
Martha schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Mir ist nichts geblieben als ein belastetes Gewissen. Immer wieder sage ich mir, ich hätte mehr für Sebastian tun müssen. Ich hätte ihn retten können, wenn ich nur das Richtige getan hätte. Aber alles, was ich gemacht habe, war falsch.«
In einer Ecke der bereits fast vollständig ausgeräumten Stube klapperte etwas. Die Holzklötze, mit denen Johannes erfolglos einen Turm zu bauen versucht hatte, polterten über den Boden. Im nächsten Moment spuckte der Bub sein Saugläppchen aus und hob zu einem jämmerlichen Protestgeschrei an.
Dankbar, dem belastenden, mutlosen Gespräch ihrer Cousine entfliehen zu können, schickte sich Christiane an, das Kind zu trösten. Sie überließ das Leinenzeug der regungslosen Mutter, ging rasch zu Johannes, bückte sich und setzte den unerwartet schweren Kinderkörper auf ihre Hüfte. Sie umfasste den
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