Die Hüterin des Evangeliums
bei der Sache ist. Es ist bald Zeit für mich, in die Druckerei zu gehen. Daran ist nicht zu rütteln. Tut mir leid.«
»Das ändert nichts«, erwiderte sie kühn, wohl wissend, dass sie sich damit zum ersten Mal bewusst seiner Entscheidung und den üblichen Gepflogenheiten für eine anständige Bürgersfrau widersetzte.
Eine halbe Stunde später klopfte sie ungeduldig gegen die schief in den Angeln hängende Tür der Rehms in der Unterstadt. Um Atem ringend, den Herzschlag außer Kontrolle, stand sie da, blind gegen den Unrat in der Gasse, und wünschte nichts mehr, als dass Martha einem dramatischen Irrtum zum Opfer gefallen war und sie Sebastian mindestens bei Bewusstsein antreffen würde. Doch da ihr nicht in angemessener Zeit geöffnet wurde, musste sie wohl oder übel befürchten, zu spät gekommen zu sein. Die Vorstellung, dass ihr Mentor aus dem Leben schied, ohne dass sie von ihm Abschied nehmen durfte, ließ sie jede Erziehung, Takt und denRespekt vor dem Tod vergessen. Ihre Fäuste veranstalteten einen regelrechten Trommelwirbel.
»Ihr habt Euch umsonst herbemüht, Herrin. Da ist niemand zu Hause.«
Christiane maß den Begleiter, den Severin ihr zum Schutz aufgedrängt hatte, mit einem knappen Blick. Ob der Junge die geeignete Wahl war? Der Druckerlehrling trat gegen die morgendliche Kälte von einem Bein auf das andere und schlang die Arme um seine magere Brust. Ein unangenehmer Ostwind pfiff durch die Gasse. Das war jedoch sicher nicht der einzige Grund für Antons Frösteln. Er hatte keinen Augenblick geschlafen in dieser Nacht, weil er dem Gesellen an der Presse zur Hand hatte gehen müssen; wahrscheinlich war er vollkommen übermüdet. Der Besuch in der Unterstadt war daher auch für ihn keine reine Freude, wie Christiane vermutete.
»Unsinn! Es ist jemand da.« Sie deutete auf die schmalen Einschnitte in dem Erker, der sich aus der Fassade zu drängen schien. »Siehst du das Licht nicht im Fenster? Es macht nur niemand auf, weil ... weil ...«, weil vielleicht gerade der Hausherr stirbt, setzte sie in Gedanken fort. Ihr Herz pochte bis in den Hals, und der Ton dröhnte ihr lauter in den Ohren als ihr Klopfen.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Das ging so rasch und unvermittelt, dass Christiane aus dem Gleichgewicht geriet und nach vorne fiel – geradewegs in die Arme eines Fremden.
»Ein wenig mehr Zurückhaltung, bitte«, forderte der streng.
Sie fand rasch auf ihre eigenen Füße zurück. Der Mann war unbestimmten Alters, zählte dreißig oder vierzig Jahre, war gepflegt und nicht unattraktiv. Auf dem braunen Haarschopf trug er ein viereckiges Barett, gegen die Kälte hatte er einen Mantel über den Gelehrtentalar geworfen, bis auf den weißenHemdkragen war er in schwarze Kleidung gehüllt. Er sah aus wie die Mischung aus einem Scholastiker und einem Geistlichen. Auf den zweiten Blick war Christiane sicher, dass dies der Priester war, der die Teufelsaustreibung an der Hübschlerin vorgenommen hatte.
Erschrocken wich sie zurück. »Was tut Ihr hier?«
In Gedanken formulierte sie direktere Fragen: Warum hatte Martha einen Jesuiten ans Lager ihres protestantischen Gemahls geholt? Warum ausgerechnet einen Exorzisten?
»Das könnte ich Euch fragen, Schwester. Mir schien, Ihr wolltet das Tor eintreten.«
Ungeduldig nestelte sie an ihrem Umhang. Sie musste ihren Händen eine Beschäftigung geben, um den Priester nicht von der Türschwelle zu stoßen. »Ich bin die Cousine von Martha Rehm und verlange ...«
»Ah, die Meitingerin. Ja. Euer Trost wird ihr guttun. Gott hat Eurer Cousine eine schwere Prüfung auferlegt. Ich bin Pater Hieronimus Ehlert. Die Rehmin ließ mich rufen, als der Kranke die letzte Ölung wünschte.«
Der Jesuit gab so plötzlich den Weg frei, dass Christiane beinahe wieder gestrauchelt wäre.
Seine Worte verwirrten sie, doch würde sie später darüber nachdenken. Ohne Pater Ehlert eines weiteren Blickes zu würdigen, trat sie in die bescheidene Behausung ein. Sie kümmerte sich nicht darum, ob der Druckerlehrling Anton ihr folgte, sich die Zeit auf der Gasse vertrieb oder zurück zum Perlach lief. Sie vergaß schlichtweg, dass er sich in ihrem Gefolge befand, zu erschüttert über die Szene, die sich ihr bot:
Martha kniete vor Sebastians Lager, ihre Schultern bebten, die Stirn hatte sie auf die gefalteten Hände ihres Mannes gelegt, der mit geschlossenen Augen im Bett lag und bereits eine Reise angetreten zu haben schien, von der es keine Wiederkehr gab.
Als
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