Die Hüterin des Evangeliums
Christiane näher trat, bemerkte sie ein feines Lächeln auf Sebastians wächsernen, blau verfärbten Lippen. Trotz der bleichen Farbe waren seine Gesichtszüge entspannt. Offensichtlich war der Tod eine Erlösung für ihn.
Christiane schwankte zwischen Entsetzen und Fassungslosigkeit. Sie wusste nicht, ob sie gelähmt war von der Erkenntnis, nie wieder von Sebastian unterrichtet zu werden, seinen Ausführungen zu lauschen und seine Klugheit zu bewundern oder zu wünschen, ihren Kummer herausschreien zu dürfen. Der Verlust des angeheirateten Vetters, ihres Freundes im Geiste, zerriss ihr das Herz. All die albernen wie notwendigen Versäumnisse aus jüngster oder entfernter Vergangenheit gingen ihr durch den Kopf. Trauer, Hilflosigkeit und Selbstmitleid drohten, ihr die Kehle zuzuschnüren.
Doch sie nahm sich zusammen. Sanft strich sie Martha über das wirre, lockige Haar.
»Sebastian ruht in Frieden«, hörte sich Christiane zu ihrer eigenen Überraschung gemessen sagen. Sie hatte geglaubt, keinen Ton herausbringen zu können, der nicht mit einem Tränenausbruch einherging. Stattdessen klang sie klar und der Tragödie angemessen.
Martha antwortete nicht, ihr leises Wimmern wurde lediglich etwas lauter.
Christiane sank neben ihrer Cousine in die Hocke und legte den Arm um die andere. Auf diese Weise wollte sie ihr stummen Trost und Geborgenheit vermitteln. Worte zu verlieren, erschien ihr in diesem Moment unangebracht.
Als Martha den Kopf an ihre Schulter lehnte, wusste Christiane, dass die untröstliche Witwe verstanden hatte.
Eine Bewegung im Hintergrund zerstörte die einvernehmliche Stille zwischen den beiden Frauen.
Über die Schulter schauend, sah Christiane, dass Pater Ehlert näher getreten war, in seinem Rücken stand MeitingersLehrling. Anton knetete mit unglücklicher Miene die Mütze in seinen Händen.
Plötzlich fiel ihr auf, dass es ungewohnt ruhig war in der Stube. Nicht einmal das gleichmäßige Atmen des Kindes war zu vernehmen. Ein Blick in die Ecke zeigte Christiane, dass die Wiege leer war.
»Wo ist Johannes?«, fragte sie erschrocken. War dem Buben etwa auch etwas passiert? Hatte der Priester bereits dafür gesorgt, dass der kleine Leichnam fortgeschafft worden war? Ein Atemstillstand, vielleicht, Christiane hatte gehört, dass das bei Kleinkindern vorkam, und Johannes litt an Asthma.
Der Jesuit öffnete den Mund, doch bevor er zu sprechen begann, hob Martha ihr tränennasses Gesicht. »Dem Kleinen geht es gut«, versicherte sie. »Er ist bei einer Nachbarin untergebracht. Wenigstens Johannes geht es gut ... noch ... Wie soll er nur ohne Vater ...?« Ihre Frage ging in Weinen unter. Schluchzend senkte sie sich wieder über Sebastians Hände.
Christiane hatte selten das Bedürfnis nach der Nähe ihres Gemahls, in diesem Augenblick wünschte sie Meitinger inständig an ihre Seite. Ein Mann, noch dazu ein Familienmitglied, vermochte der verzweifelten Martha sicher mehr Zuversicht zu vermitteln als sie. Deshalb traf sie eine Entscheidung. Wenn der angeheiratete Vetter schon keine Zeit hatte, würde sie nach dem ältesten Freund des Toten schicken. Georg Imhoff mit seiner Begabung, immer das Richtige zu sagen, würde der geeignetste Beistand für Martha und die beste Unterstützung für sie selbst sein.
Sie richtete sich auf und wandte sich an den Priester: »Der Dichter Georg Imhoff war Sebastian Rehm eng verbunden. Er sollte die traurige Nachricht unverzüglich erhalten. Anton kann gehen und es ihm sagen, er weiß, wo Herr Imhoff zu Hause ist.« Auf diese Weise konnte sie wenigstens einemMenschen in diesem Raum eine kurze Freude bereiten und den unglücklich dreinschauenden Lehrling fortschicken.
»Das ist ein guter Gedanke«, lobte der Jesuit.
»Ich eile, Herrin«, versicherte Anton.
Geistesabwesend begann Martha wieder zu sprechen, ihre Stimme klang glockenhell, und die Sätze flossen klar über ihre bebenden Lippen: » Wie soll ich reden, so ich vor Weinen nicht wohl kann ein Wort finden? Ich werde ohne Zweifel mehr Heulens und Trauerns machen. Denn wie sollten wir nicht alle herzlich trauern, so Gott uns die Betrübnis zugeschickt und ... «
»Was ist das?«, fragte Christiane verblüfft. »Hat Sebastian das verfasst?«
»Nein, nicht wirklich, auch wenn es tatsächlich die letzten Sätze sind, die Sebastian niedergeschrieben hat, so sind sie doch von Johann Bugenhagen. Es sind Teile aus der Grabpredigt für Martin Luther ...«
Christiane hörte Pater Ehlert in ihrem Rücken
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