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Die Hüterin des Evangeliums

Die Hüterin des Evangeliums

Titel: Die Hüterin des Evangeliums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Galvani
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Wahnsinniger, dem der Reichstag vor seiner Haustür zu Kopf gestiegen sein mochte.
    Andererseits war die Geschichte zu plausibel vorgetragen, um erfunden zu sein. Besaß ein gewöhnlicher Irrer überhaupt die Phantasie, einen Betrug dieses Ausmaßes so verständlich darzulegen, wie es Sebastian Rehm niedergeschrieben hatte? Jedes seiner Worte ergab einen Sinn. Schlimmer noch, die Idee zu diesem unglaublichen Betrug war ebenso einfach wie genial. Was würde geschehen, wenn jemand ein Werk Martin Luthers fälschte und dem Reformator Sätze in den Mund legte, welche die Religionsgemeinschaften, die Kurfürsten und Fürsten der protestantischen Länder ebenso wie die katholischen Bischöfe und Kardinäle vor den Kopf stieße? Wer den Religionsfrieden verhindern wollte, hatte mit diesem Buch ein wirksames Mittel zur Hand. Zumindest wäre es ein wirksamerer Versuch, die Verhandlung zu stören, als auf die Unterbrechung aus Gründen der Trauer um Johanna von Kastilien zu hoffen. Wer immer den Plan ersonnen hatte, er war ein Genie. Sebastian Rehm selbst? Wohl kaum, Wolfgang glaubte ihm den Hintermann. Natürlich war es möglich, dass sich der Autor aus Angst vor den Folgen seines Handelns hinter der Behauptung einer Verschwörung versteckte, aber recht unglaubwürdig.
    Der Wert des Betrugs hing natürlich von der Qualität des Drucks ab, denn es war zweifelsohne wichtig, die Fälschung nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Doch Papier und Lettern konnten so präpariert werden, dass beides älter wirkte, als es tatsächlich war. Spätestens seit dem Erbe der Druckerprivilegien wusste Wolfgang um gewisse Geheimnisse der Zunft. Daher war es für ihn vorstellbar, wie der Schwindel unauffällig vollzogen werden konnte. Und dann würden sich vor allem die Gegner des Religionsfriedens für die Authentizität der angeblichen Urschrift verwenden – zunächst einmal war das also eine sichere Sache.
    Wolfgang blickte über den Platz vor dem Rathaus. Die Stimmen der Ausrufer drangen wieder an sein Ohr, die Unterhaltungen der Passanten, das Knarren von Rädern und das Trappeln der Pferdehufe, irgendwo bellte ein Hund. Es schien ihm, als habe er das eigentliche Leben für ein paar Minuten ausgeblendet. Vor seinen Augen floss der Alltag zahlloser Menschen nun wieder dahin wie der Sand in einer Stundenuhr. Wie viel Zeit blieb diesen friedlichen Leuten noch, bevor die Katastrophe über sie hereinbrach?
    Großer Gott, fuhr es ihm durch den Kopf, ich beginne, an die Apokalypse zu glauben. War er verrückt? Litt Sebastian Rehm möglicherweise an einer ansteckenden Krankheit, die mittels der Worte in einem Brief übertragen wurde?
    »Revoco«, murmelte Wolfgang in sich hinein.
    Er widerrief aus ganzem Herzen. Es tat ihm leid, dass er das Anliegen des Schriftstellers aus Augsburg nicht sofort verfolgt hatte. Wenn Sebastian Rehm die Wahrheit sprach, und davon ging Wolfgang aus, musste er ihm zu Hilfe eilen. Das war seine Pflicht. Als Mensch, als Christ, Protestant, wahrscheinlich auch als Verleger, denn er konnte nicht zulassen, dass seine Zunft in einem solchen Ausmaß aufs schändlichste benutzt wurde.
    Bevor er Sebastian Rehm zur Rede stellte, wollte er sich jedoch mit Bernhard Ditmold beraten. Es war gut, dass der Besuch in Speyer ohnehin geplant war. Wie die Dinge lagen, war die Meinung eines Assessors hochwillkommen. Einen Fürsprecher brauchte Rehm ohnehin, wenn sein Betrug ans Licht kam. Der Autor konnte nicht ahnen, dass er sich in mehrfacher Hinsicht an den richtigen Mann gewandt hatte.
    Mit einem bitteren Lächeln faltete Wolfgang den Brief zusammen und schob ihn in sein Wams. Dann wandte er sich um und betrat raschen Schrittes das Rathaus, um vom Rat ein Reisegeleit zu erbitten. Eigentlich war das schon vorhin sein Ziel gewesen, nun aber hatte sich die Situation insofern verändert, als dass er das Datum seines Auszugs aus Frankfurt so früh wie nur irgend möglich ansetzen wollte – musste.

Augsburg,
Mitte April 1555
11
    »Die Leute meinen, die schwarze Galle habe Sebastian zerstört«, sagte Martha und wischte sich mit trotzigem Protest eine Träne aus dem Augenwinkel. »Er sei unbelehrbar in seiner Melancholie gewesen.«
    Christiane hob ihren Kopf von der Truhe, in der sie Marthas Leinenzeug verstaute. Sie war am Morgen in die Unterstadt gelaufen, um ihrer Cousine beim Packen behilflich zu sein. Zwar besaß Martha nicht viel, aber es war doch genug, um vier Hände über Stunden beschäftigt zu halten.
    Vor dem Haus stand ein

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