Die Hüterin des Evangeliums
tief Luft holen, doch sie ignorierte ihn. »War ein Buch über Martin Luther sein neues, wichtiges Werk?«
»Sebastian beschäftigte sich bis zuletzt damit. Schau nur, an seinen Fingern kleben noch Tintenflecken.«
Ohne sonderlich darüber nachzudenken, fragte Christiane: »Und was waren seine letzten Worte? Was sagte Sebastian, bevor er starb?«
» Revoco «, erwiderte Martha leise. Der vergessene Tränenstrom schien nicht versiegt zu sein. Doch sie schluckte den Weinkrampf diesmal energisch hinunter. »Sein letztes Wort war ›revoco‹ ... Weißt du, was das heißt, Christiane?«
Obwohl sie nur wenige Lateinstunden genossen hatte, konnte Christiane die Vokabel problemlos übersetzen. Sie zögerte jedoch, Martha die Wahrheit zu sagen, denn sie konnte die einzige Erklärung nicht akzeptieren, die sich angesichts der Umstände aufdrängte. Die Anwesenheit des Jesuitenpatersund Sebastians Wunsch nach dem Sterbesakrament waren jedoch der eindeutige Beweis, dass sie mit ihrer Vermutung richtiglag: Der Mann, der ihr den neuen Glauben nahegebracht hatte, bereute im Tod seine Hinwendung zur Reformation. Vielleicht hatte ihn auch die intensive Beschäftigung mit Martin Luther kurz davor klarer sehen lassen. Oder der Priester hatte ihn zum Abfall genötigt. So viele Gründe es für den Gesinnungswandel geben mochte, so schwer waren sie für Christiane zu akzeptieren. Für sie brach eine Welt zusammen.
Nach einer kleinen Pause antwortete sie: »Ich widerrufe! Revoco heißt: Ich widerrufe!«
Frankfurt am Main,
eine Woche später
10
Zum zweiten Mal in kürzester Zeit bedauerte Wolfgang Delius, dass in seiner Werkstatt nur geistvolle Literatur und keine Flugblätter hergestellt wurden, welche die neuesten Nachrichten unter das Volk brachten. Ende März war Papst Julius III. verstorben, und nun berichteten die Zeitungen vom Tod der Mutter des Kaisers. Damit ließen sich zweifellos gute Geschäfte tätigen.
Die Händler der gedruckten Botschaften lagen im Wettstreit mit den Ausrufern, Moritatensängern und Trommlern, die sich im Schatten des Hauses zum Römer gegenseitig zu übertönen versuchten: »Hört, Ihr Leute! Königin Johanna von Kastilien und Aragon ging im fernen Spanien von uns. Eine Verbrühung raffte die Mutter Seiner Kaiserlichen Majestät Karls V. dahin. Scheitern nun die Verhandlungen beim Reichstag zu Augsburg?«
Das genau ist der Grund, weshalb ich keine Botschaften mit Neuigkeitswert herausbringe, grollte Wolfgang, als er an den von Menschen umringten Hausierern rasch und energisch vorbeischritt. Aufflammender Zorn ob der Sensationslust schnürte seine Brust zusammen.
Der Religionsfrieden hatte rein gar nichts mit dem Tod der Dame zu tun, die im Volksmund auch »Johanna die Wahnsinnige« genannt wurde. Es war allgemein bekannt, dass sowohl Kaiser Karl als auch sein Bruder, König Ferdinand, kein gutes Verhältnis zu ihr hatten, da sie bereits als Kinder in die Obhut von Verwandten gegeben worden waren. Daher wurde zwar die Form gewahrt und das Ableben der Kaisermutter entsprechendbetrauert, aber Konsequenzen entstanden daraus nur in den Köpfen des neugierigen und für alles Böse und Dramatische aufgeschlossenen Publikums.
Wenn die Verhandlungen vertagt würden, dann eher wegen des Ablebens des Heiligen Vaters. Das anstehende Konklave zwang die Kardinäle, von Augsburg nach Rom zu reisen, und wenn sich die katholische Seite nicht ausreichend durch ihre Vertreter positioniert sah, könnte es Schwierigkeiten geben. Wolfgang hoffte jedoch, dass es nicht so weit kommen würde. Nicht nur aus Gründen politischer Vernunft: Einen Reichstag zu Augsburg erleben zu dürfen, besaß den Geschmack eines glanzvollen Abenteuers, und darauf würde er ungern verzichten, obwohl er nur ein Zaungast sein würde. In drei Wochen, so hoffte er, würde er alle Reisevorbereitungen abgeschlossen haben und sich auf den Weg in den Süden machen. Unterbrochen von einem Besuch bei seinem Freund Bernhard Ditmold in Speyer und den Tagen in Augsburg, wollte er Ende Mai in Venedig eintreffen. Schade nur, dass er ohne weibliche Begleitung sein würde. Amalie sollte ihn in Frankfurt vertreten – und es wäre auch nicht schicklich, als unverheiratetes Paar auf Reisen zu gehen ...
»Herr Delius ... Herr Delius ...«, ein Postbote in schwarzgelber Kluft lief auf ihn zu, schob einen Spaziergänger grob beiseite und ignorierte die Flüche eines Reiters, dessen Bahn er gekreuzt hatte, ohne auf das herannahende Pferd zu achten. Schließlich
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