Die Hüterin des Evangeliums
kleinen, warmen Leib mit ihren Armen. Unverzüglich verstummte Sebastians Sohn, schmiegte sich an sie. Seine ungeschickten Fingerchen tasteten über ihr Mieder undfanden in den dekorativen Perlschnüren ihres Blankscheits ein neues Spielzeug. Christiane ließ ihn trotz Marthas hochgezogenen Augenbrauen gewähren.
»Du wirst ihn noch verziehen!«
»Ach, nein. Er ist ein so lieber kleiner Kerl. Ich bin sicher, er wird Sonnenschein in unser Heim bringen«, behauptete Christiane.
Tatsächlich freute sie sich auf ihren neuen Mitbewohner. Sebastians Witwe und sein Sohn würden bei den Meitingers einziehen, das hatte ziemlich rasch festgestanden. Wo sollten die arme Frau und das Kind auch sonst hin? Ohne Mann konnte sie nicht in ihrem alten Zuhause bleiben, aber sie hatte nicht einmal genug von ihrem Haushaltsgeld gespart, um eine Leichensagerin loszuschicken, geschweige denn so viel, sich in eine Witwenwohnung einzumieten. In dieser Situation erwies sich Severin als Retter in der Not: Der Drucker behauptete, er schulde dem Toten noch ein Honorar – und dieses entsprach zufällig den Kosten des Begräbnisses, so dass er Sebastian das Armengrab ersparte. Auch schlug Christianes Gatte vor, ihre Cousine bei sich aufzunehmen, da Christiane eine Haushaltshilfe gut gebrauchen könne. Sie war ihm zutiefst dankbar für diese Mildtätigkeit. Eine Kammer neben dem Zimmer des griesgrämigen Titus war allemal einem Leben im Haus des bigotten Brunnenmeisters vorzuziehen, Marthas einzigen anderen Verwandten. Selbst auf Sebastians Beerdigung hatte Hans Walser keinen Hehl aus seiner Meinung gemacht, dass er den Ketzer Rehm lieber in der Hölle hätte schmoren als in geweihter Erde bestatten lassen.
Noch immer in die Beobachtung des kleinen Johannes versunken, der ganz hingerissen von ihren Perlen war, überlegte Christiane hochmütig, welches Glück es für den Buben war, in ihre Obhut zu gelangen. Trotz der Anwesenheit ihres Schwiegervaters und ihres Gatten wäre es ihr eines Tagessicher möglich, dem Kind ein wenig von Sebastians protestantischem Gedankengut nahezubringen. Das war sie ihrem Mentor schuldig, obwohl er angesichts des Todes – oder des Teufels – wohl selbst umgeschwenkt war.
»Das Leinenzeug ist verstaut«, verkündete Martha freudlos und überließ dem wieder aufgetauchten Anton das letzte Umzugsgut. »Nun gibt es nichts mehr einzupacken. Es erscheint mir seltsam zuzuschauen, wie ein ganzes Leben auf einem Fuhrwerk verstaut wird. Ich dachte, es wäre mehr übriggeblieben.«
Christiane wies auf die Kiste mit Papieren, die unter dem Fenster stand, wo einst Sebastians Schreibtisch Platz gefunden hatte. »Vergiss nicht ...«
»Da sind Sebastians Aufzeichnungen drin, und die bleiben vorläufig hier«, erklärte Martha. »Georg Imhoff wird sie später abholen. Er hat sich angeboten, Sebastians Nachlass zu ordnen. Ich versteh davon ohnehin wenig, und vielleicht findet er ja noch ein zum Druck geeignetes Werk.«
Unwillkürlich fiel Christiane das rätselhafte Buch ein, mit dem sich Sebastian Rehm in seinen letzten Lebenswochen beschäftigt hatte. Sie beschloss, Georg Imhoff irgendwann danach zu fragen. Der Dichter würde den Wert dieses Manuskripts zweifellos erkennen, wenn er es denn fände. Es war jedoch nicht auszuschließen, dass Sebastian sein mysteriöses Werk ins Feuer geworfen hatte, als er den Tod in sich spürte. Zuzutrauen war’s ihm jedenfalls, nachdem er solch ein Geheimnis darum gemacht hatte.
Christiane wollte Martha gerade fragen, ob sich Sebastian in seinen letzten Stunden am Herd zu schaffen gemacht hatte, als sich die Finger des kleinen Johannes in ihren Perlschnüren verhakten. Im selben Augenblick rissen die Ketten. Wie eine Kaskade rollten die Muschelsteinchen an Christianes Rock entlang und verteilten sich auf dem Boden.
Die Mutter des Kindes erbleichte. »Böser, böser Bub ...!«
Johannes schien indes seine wahre Freude daran zu haben zuzuschauen, wie die schimmernden, weißen Kugeln über die Dielen rollten.
»Nicht schimpfen, der Kleine kann nichts dafür. Ich hätte besser aufpassen müssen«, Christiane sah sich ein wenig ratlos nach ihrem Schmuck um, zuckte mit den Achseln und lächelte dann gezwungenermaßen zuversichtlich. »Mit ein bisschen Mühe sammle ich alles wieder ein.«
»Ich helfe dir ...«
Der zurückkehrende Anton unterbrach die junge Witwe: »Es ist alles verstaut, Herrin. Wir sollten gleich fahren. Wenn wir warten, wird das Gesindel wieder herunterholen, was ich
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