Die Hüterin des Evangeliums
Meitinger zog sich jeden Tag mehr in sich zurück, beachtete sie kaum noch. Selbst das Ritual am Samstagabend vollzog er nur noch, wenn sie ihn an die ehelichen Pflichten erinnerte. Nachdem er vor einigen Tagen zu einer Geschäftsreise aufgebrochen war, empfand sie eine gewisse Erleichterung, als könne sie plötzlich besser atmen. Sie nahm sich vor, vor seiner Rückkehr mit sich ins Reine zu kommen, um ihm anschließend eine treusorgende Frau zu sein, wie sie es im Dezember vor dem Altar gelobt hatte ...
Das Klopfen nahm kein Ende. Christiane schien es, als trommelte die Person an ihrer Haustür auf ihren Kopf.
Warum öffnete die Magd nicht? Wo war Martha? Severins alte Hausangestellte flüchtete sich gerne in ihre angebliche Taubheit, wenn sie eine unerwünschte Arbeit übernehmen sollte. Aber wenigstens von ihrer Cousine könnte sie doch erwarten, dass sie den Störenfried von der Schwelle wies oder ins Haus einlud, je nachdem, wer sich Einlass zu verschafften suchte.
Begleitet von einem leisen Stöhnen erhob sich Christiane. Der Stickrahmen rutschte ihr vom Schoß und fiel zu Boden. Sie ließ die Handarbeit unbeachtet liegen und schleppte sich schlaftrunken in den Flur, um durch die Luke an der Treppe zu spähen.
»Christiane!«, brüllte der alte Titus aus der obersten Etage. »Kannst du nicht öffnen, bevor die Tür eingetreten wird?«
»Ja. Ja, doch«, rief sie und schob den Riegel des kleinenFensters zurück. Obwohl Frühling, war es ein wolkenverhangener, kühler Tag, und sie zog mit der freien Hand das Wolltuch fester um ihre Schultern. Sprühregen stach ihr mit feinen Nadeln ins Gesicht. »Wer ist dort?«
Conrad von Hallensleben legte seinen Kopf in den Nacken und sah zu ihr auf. Dabei verrutschte sein Barett, und die Ohrenklappen gaben ihm das Aussehen eines Kaninchens. Er hob eine Hand, um den Hut festzuhalten, während er zu Christiane hinaufrief: »Macht auf, Meitingerin. Ich will zu Eurem Gatten.«
Sie lehnte sich trotz des Regens aus dem Fenster. »Es tut mir leid, Ihr habt Euch umsonst herbemüht. Mein Mann ist nicht da.«
»Einerlei. Ich muss den Meitinger dringend sprechen. Sofort«
»Deshalb kommt er nicht rascher heim«, erwiderte sie, verärgert über seinen Ton. Seine Bemerkung klang, als bezichtige er sie einer Lüge. »Er ist auf Reisen, und ich erwarte ihn nicht vor morgen zurück.«
»Dann will ich seinen Gesellen sprechen.«
Warum ging er dann nicht durch das Tor zum Hof und zu dem rückwärtig gelegenen Eingang der Druckerei?, fragte sich Christiane wütend. Der Mann sprach mit ihr, als sei sie die Magd und nicht die Hausherrin. Ihr lag eine pampige Antwort auf der Zunge, doch gerade rechtzeitig besann sie sich, um die Lippen zusammenzupressen. Conrad von Hallensleben war ein Herr von hohem Stand, darüber hinaus ein guter Kunde ihres Gatten. Daher sollte sie ihn mit vorzüglicher Hochachtung behandeln und nicht wie einen lästigen Bittsteller. Meitinger wäre mit Recht verstimmt, wenn er erführe, dass sie diesen Besucher zur Hintertür geschickt hätte.
»Lasst mich ein!«, forderte von Hallensleben ungehalten.»Ich werde noch nass bis auf die Knochen, wenn Ihr Euch nicht endlich beeilt.«
»Wie Ihr wünscht«, sie zog sich zurück, schloss das Fenster und raffte die Röcke.
»Das Wetter lädt nicht zum Verweilen im Freien«, verkündete er statt einer formvollendeten Begrüßung, als sie ihm die Tür aufschloss. Ungeachtet der Regentropfen, die durch den Flur flogen wie kleine Wasserperlen, schüttelte er seinen Umhang aus. Dann schien ihm aufzufallen, dass kein Personal zur Stelle war. Grimmig sah er sich um: »Und wohin soll ich meinen Mantel zum Trocknen tun?«
Christiane nahm ihm das nasse Kleidungsstück aus den Händen. »Eure Laune steht nicht zum Besten, Herr von Hallensleben«, sagte sie mit einem bemüht freundlichen Lächeln.
»Betrug, Meitingerin, hebt nie die Stimmung eines ehrlichen Mannes.«
Bestürzt sah sie ihn an. »Wovon sprecht Ihr?«
Er hob das in Wachstuch geschlagene Päckchen, das er unter seinem Mantel verborgen hatte. »Von Fälschungen aus der Druckerei Meitinger. Hier ist der Beleg.«
Christiane schnappte nach Luft. Der Vorwurf war ungeheuerlich. Spontan machte sie einen Schritt auf von Hallensleben zu, um ihm die Beweise für seine Anschuldigung abzunehmen, kam aber rechtzeitig zur Besinnung. Natürlich würde er ihr die Papiere, die er sicher verpackt in ihr Haus gebracht hatte, nicht freiwillig aushändigen. Wahrscheinlich würde er
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