Die Hüterin des Evangeliums
Mann wie sein Vater werden. Ihre Cousine würde wie eine Mutter für Johannes sorgen, dochkonnte sie ihm Martha tatsächlich ersetzen? Konnte sie, Martha, darauf verzichten, ihren Sohn aufwachsen zu sehen, das Einzige, was ihr nunmehr von Sebastians geblieben war? Verriet sie nicht ihre Liebe zu ihrem verstorbenen Mann, wenn sie jetzt aufgab?
Ohne Hilfe schaffte sie es nicht, der Grausamkeit des Schicksals zu entfliehen.
Mit einer fast unmenschlichen Kraftanstrengung raffte sich Martha auf. Ihr Hemd war blutdurchtränkt, klebte an ihren Schenkeln, aber das war ihr einerlei. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten, schaffte es überraschenderweise jedoch irgendwie vorwärtszukommen. Jeder Schritt kostete Mühe, aber schließlich erreichte sie den obersten Treppenabsatz.
Sie hob ihre Stimme, um nach der Magd zu rufen. Vielleicht hörte man sie auch in der Werkstatt, wenn sie nur laut genug war. Doch mehr als ein Flüstern kam ihr nicht über die Lippen, und Martha wurde schwarz vor Augen.
Auf ihrem Weg nach Hause war Christiane blind gegen die anderen Passanten, schenkte Bekannten nur einen geistesabwesenden Gruß und übersah sogar beinahe ein Fuhrwerk, als sie den Weinmarkt überquerte. Obwohl sie sich sicher war, dass Severin am Abend bei guter Gesundheit heimkehren würde, erschreckte sie die Mördergeschichte des Jesuiten zutiefst. Nicht nur, dass es gotteslästerlich war, den Tod eines anderen Menschen herbeizureden – es war Teufelswerk und eine Herausforderung des Schicksals.
Christiane fühlte dieselbe panische Angst in sich aufsteigen, die sie während des Exorzismus an der Hübschlerin erlebt hatte. Zum ersten Mal seit jenem Erlebnis konnte sie sich leibhaftig vorstellen, angesichts des Geistlichen und seines Schabernacks in verzweifeltes Geschrei auszubrechen, zu toben und den Verstand zu verlieren. Es war helllichter Tag, dochwährend sie durch die Gassen lief, den kleinen Johannes auf dem Arm, glaubte sie, von bösen Mächten verfolgt zu werden.
Das Tor stand offen, was ungewöhnlich war und ihrem neu entflammten Aberglauben nicht bekam. Obwohl sie inzwischen schweißgebadet war, lief ihr ein eisiger Schauer über den Rücken.
Das vertraute Geräusch der Druckerpressen beruhigte sie etwas. In der Werkstatt ging anscheinend alles seinen gewohnten Gang.
Als sie die Diele betrat, herrschte jedoch unnatürlich tiefe Stille. Anders konnte es auch in einer Gruft nicht sein ...
Zögernd stieg sie die Treppe hinauf. Das Kind war an ihrer Schulter eingeschlafen und schnarchte leise. Unwillkürlich umfasste sie den kleinen, warmen Körper fester, wobei sie sich nicht ganz klar war, ob sie den Buben beschützte oder Johannes ihr Halt gab.
Etwas Feuchtes traf sie. Vom oberen Treppenabsatz tropfte eine Flüssigkeit herab. Es dauerte eine Weile, bis Christiane begriff, dass es sich um Blut handelte. Entsetzt starrte sie auf den roten Flecken auf ihrer Hand.
»Der Druckermeister Severin Meitinger ... erschlagen wurde ...« , die furchtbaren Worte von Pater Ehlert hallten durch ihren Kopf.
Christiane begann zu schreien.
17
Das Getränk, das der Fremde ihr einflößte, schmeckte bitter und süß zugleich, es brannte in ihrer Kehle – und plötzlich wurde Christiane von einem Hustenanfall geschüttelt. Widerwillig schob sie die Hand, die den Becher an ihre Lippen geführt hatte, von sich.
»Geht es wieder?«, fragte eine tiefe, wohlklingende Stimme.
»Nein«, gab sie patzig zurück.
Sie fühlte sich elend und aufgewühlt, konnte die verwirrenden Eindrücke nicht ordnen, welche die vergangenen Minuten rasend schnell hatten vorübergehen lassen. Ihre Hand fuhr über ihre Augen, aber das Bild davor veränderte sich nicht.
Es war kein Traum. In Severins Schreibstube stand jener gut gekleidete, attraktive Mann, der in die Diele gestürmt war, als sie zu schreien begonnen hatte. Sein Gesicht war schmal und fein geschnitten, die Augen tiefblau und von dichten Wimpern umkränzt, das dünne, bis über die Ohren fallende, braune Haar gepflegt. Offensichtlich handelte es sich um einen Herrn von Stand – aber er war ein Fremder und hatte in Meitingers Haus nichts zu suchen. Zumindest nicht in dieser Weise. Er hatte nach der Karaffe im Buchregal gegriffen, als sei dies seine eigene Bibliothek, und er behandelte Christiane, als wäre er der Hausherr und sie ein Gast, den es zu bewirten galt.
Außerdem saß der Schock zu tief, um vernünftig zu erfassen, was geschah. Mit ihrem Schrei war Leben in das stille Haus
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