Die Hüterin des Evangeliums
bestürzt, als ihr klar wurde, dass sie im Begriff stand, dem Fremden nun doch die Wahrheit zu offenbaren. Sie musste die Texte im Weinkeller unbedingt noch einmal sichten. Und dann sollte sie so rasch wie möglich herausfinden, welchen Inhalts die Fälschungen waren, die Conrad von Hallensleben besaß. Offenbar ahnten schon zu viele Männer von irgendwelchen Machenschaften im Hintergrund. Aufklärung war die einzige Rettung.
Doch dabei konnte Wolfgang Delius ihr nicht helfen. Vorläufig jedenfalls nicht. Hastig drückte sie ihm das Spitzentuch in die Hand, das sie noch immer festgehalten hatte. »Ich muss gehen ...«
»Nein. Bitte nicht. Zuerst ...«
»Man wird sich wundern, wenn ich zu spät zum Leichenschmaus komme. Der Schwäher könnte in der Zwischenzeit weitere Verleumdungen über mich verbreiten. Das kann ich nicht zulassen. Und überhaupt ... Ihr seid übrigens eingeladen, Herr Delius, und Euer Freund auch ...«
»Frau Meitinger ... Christiane ...«
»Lass sie!«, hörte sie Bernhard Ditmold hinter sich.
Der Assessor hatte sich irgendwo zwischen den Gräbern verborgen gehalten. Als Zeuge des angeblich vertrauensvollen Gesprächs zwischen ihr und Wolfgang Delius? Christiane dankte dem Himmel, dass sie dem Verleger aus Frankfurt nicht gesagt hatte, was sie belastete. Nicht auszudenken, wenn Ditmold sie belauscht und die Wahrheit gegen sie verwendet hätte. Und gegen Martha. Vom Andenken an Sebastian Rehm ganz zu schweigen.
25
»Es ist kein Geld mehr da«, verkündete Titus mit grimmiger Miene. »Nur Schulden.«
Martha presste die Hand auf den Mund und biss sich vor Schreck in den Daumenballen. Panik erfüllte sie und drohte sie zu überwältigen. Alles, wovon ihr Leben und das des kleinen Johannes abhing, war Severin Meitingers Vermögen. Sie starrte den alten Mann entsetzt an. Dann wanderten ihre Augen zu Christiane, die mit keiner Wimper zuckte, als sei diese Nachricht keine Überraschung für sie. Wahrscheinlich, dachte Martha, trägt sie einen Schild, welcher sie vor weiteren Tragödien schützen soll. Doch wie lange würde ihre Cousine noch Ruhe bewahren angesichts immer neuer Enthüllungen?
Die Witwe wandte ihren Kopf hoheitsvoll dem zweiten Mann an ihrem Tisch zu. »Meister Bäumler, seid Ihr bei der Durchsicht der Buchhaltung zu demselben Ergebnis gekommen?«
»Nein, Meitingerin, das bin ich nicht«, erwiderte der Drucker. Nervös ließ er seine Fingergelenke knacken. »Allerdings ist mir aufgefallen, dass regelmäßig hohe Beträge in den Bilanzen auftauchen, die sich aus den Saldenlisten nicht erschließen. Hättet Ihr mich nicht zu dieser Zusammenkunft gebeten, wäre ich gezwungen gewesen, Euch darauf anzusprechen und den Rat zu informieren.«
»Den Rat?«, wiederholte Christiane.
»Wenn Bücher gefälscht werden, muss der Rat informiert werden«, antwortete Titus anstelle des Zunftmeisters.
Martha zuckte zusammen. Sie senkte die Lider, um ihre Unsicherheit nicht zu verraten. Unter den Wimpern beobachtete sie ihre Cousine, die auch auf diesen Kommentar reglos blieb. Dabei jagte die Doppeldeutigkeit der Worte zumindest Martha einen gehörigen Schrecken ein. Wie schaffte esChristiane nur, so ruhig zu sein? Sie ist eine gute Geschäftsfrau, fuhr es Martha schließlich anerkennend durch den Kopf. Sie wird uns retten! Und ihr Herz füllte sich mit Liebe, als sie an den kleinen Johannes dachte, den sie beim Eintreffen des Gastes mit der Kinderfrau in der Küche zurückgelassen hatte, wo er süßen Haferbrei in sich hineinstopfte. Ja, auf Christiane konnten sich ihr Kind und sie selbst verlassen. Ihre Cousine würde niemals zulassen, dass sie Unterkunft in einem Seelhaus suchen mussten.
»Natürlich«, Severin Meitingers Witib nickte ihrem Schwiegervater unterwürfig zu. »Es war dumm von mir, danach zu fragen. Verzeih.«
»Mein Sohn hat den Verstand verloren, nicht du«, grollte Titus. »Macht Schulden ohne Ende, um dir ein Leben in Saus und Braus zu bieten, hat bei den Geldverleihern in Ulm Haus und Werkstatt verpfändet. Dorthin bin ich gereist, als von Hallensleben ...«, er brach kopfschüttelnd ab und schlug die von Altersflecken fast braunen Hände vor sein Gesicht, als könne er verhindern, auf diese Weise der Realität ins Auge zu blicken.
Bäumler schien für die junge Witwe Partei ergreifen zu wollen, denn er sagte begütigend zu Christiane: »Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen, für die Verbindlichkeiten sollt Ihr nicht aufkommen. Jedenfalls nicht mit Eurer Mitgift und
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