Die Hüterin des Evangeliums
– umso erstaunter war sie, ihn neben sich zu finden.
»Das war ein ziemlich dramatischer Auftritt«, stellte er leise fest.
»In der Tat«, stimme sie verdrossen zu. »Meint Ihr, dass mir seine Anklage Ärger bereiten wird?«
»Mein Freund Ditmold und ich sind überzeugt davon, dass Ihr nicht für den Tod Eures Gatten verantwortlich seid.«
»Hm«, machte sie und senkte die Lider zu ihren Händen, die wieder nervös mit den Bändern an ihrem wunderschönen schwarzen Kleid spielten. Ach, Severin, dachte sie mit einem Mal, überwältigt von Trauer. Der Glanz, den sie sich für seine Beerdigung gewünscht hatte, war dahin. Nicht der Tote war mehr die Hauptperson der Zeremonie des Abschiednehmens, sondern dessen Vater. Das hatte Severin Meitinger nicht verdient. Und sie auch nicht. Immerhin hatte sie sich stets Mühe gegeben, eine gute Ehefrau zu sein und eine rechtschaffene Schwiegertochter. Titus war ständig über sie hergezogen,aber genau genommen hatte sie ihm niemals Anlass dafür gegeben.
Nüchtern betrachtet gab es nur einen Weg, die katastrophalen Beschuldigungen zu entkräften: Sie musste so schnell wie möglich den wahren Mörder finden! Doch wo suchte man nach einem skrupellosen Täter? Wie sollte sie es anstellen, ganz alleine auf sich gestellt, jemanden ausfindig zu machen, der einen anderen Mann erschlug, um die eigenen Interessen zu wahren? Plötzlich erschienen ihr alle Pläne, die sie inzwischen mutig gefasst hatte, in einem anderen Licht: Es war nicht so einfach, eine Sache aufzuklären, wenn das eigene Leben davon abhing.
»Ich würde gerne ...«, hob Delius an, doch Christiane erfuhr nie, was er wollte, denn er unterbrach sich, als er Pater Ehlert herannahen sah. »Ihr erscheint zur rechten Zeit«, begrüßte er den Priester. »Frau Meitinger scheint mir geistlichen Beistand gut gebrauchen zu können.«
»Immerhin habt Ihr bereits für weltliche Unterstützung gesorgt«, erwiderte der Jesuit, dessen scharfe Augen ebenso flüchtig wie wissend an Christianes Gestalt hinabwanderten.
Zumindest er hatte beobachtet, dass sie die Hand von Wolfgang Delius ergriffen hatte. Das machte er überaus deutlich. Wer noch mochte dieses kurze Zeichen von Vertrautheit bemerkt haben? Eine Nähe, die ihr wohlgetan hatte, ihr aber ebenso fremd war wie der Mann, der sie ihr geschenkt hatte. Was für ein Skandal, wenn aus dieser Situation die falschen Schlüsse gezogen würden! Christiane hatte das Gefühl, der Himmel stürze über ihr ein. Nur mühsam konnte sie Haltung bewahren. Sie spürte die Tränen aufsteigen und schluckte sie tapfer hinunter.
Sie räusperte sich, um dann entschlossen und mit erhobener Stimme zu verkünden: »Denkt denn niemand mehr daran, warum wir eigentlich hier sind? Dies ist die Totenwache meinesGemahls und kein schmieriges Theaterspiel mit falscher Rollenverteilung.«
Ihre Worte waren nicht nur für Delius und Pater Ehlert bestimmt gewesen, und sie hatte laut genug gesprochen, um ein größeres Publikum zu erreichen. Die Trauergäste, die dem Erker am nächsten standen, erstarrten, zeigten Erstaunen, Verständnis und wirkten sogar ein wenig beschämt. Eine Veränderung ging durch die Runde, die vielleicht so etwas wie Anerkennung für Meitingers Witib beinhaltete. Wer immer sie für schuldig halten mochte und die eigene Phantasie damit beflügelte, angesichts der Umstände würden die meisten Leute mit einem Urteil bis nach der Beerdigung warten. Alles andere wäre Störung des Totenfriedens – und damit wollte sich niemand belasten.
Christiane dankte stumm dem Herrn, der ihr die richtigen Sätze zur rechten Zeit zugeflüstert hatte.
»Eigentlich bin ich nicht wegen der Meitingerin gekommen«, hörte sie Pater Ehlert neben sich sagen, »sondern Euretwegen. Ich bitte Euch um ein Gespräch, Herr Delius.«
»Gerne. Aber lasst uns erst die Beisetzungsfeierlichkeiten hinter uns bringen. Morgen wäre gut. Wollt Ihr mich morgen aufsuchen?«
Ein Geistlicher mit Ambitionen, dachte Christiane verächtlich. Waren Jesuiten nicht als die Wissenschaftler Gottes bekannt, die ehrgeizig für die schriftliche Verbreitung ihrer Glaubensauffassung sorgten? Was konnte Pater Ehlert unter diesen Umständen stärker entgegenkommen als die Bekanntschaft mit einem Verleger? War der Wunsch nach einer Veröffentlichung der Grund gewesen, sich mit Severin in Auerbach zu verabreden? Warum in der Posthalterei und nicht in der Werkstatt?
Weil es ketzerische Schriften waren, für deren Verbreitungder Priester
Weitere Kostenlose Bücher