Die Hüterin des Evangeliums
fragen, was Ihr verschweigt.«
Erschrocken fuhr sie zusammen. Die Deutlichkeit seiner Frage traf Christiane ins Mark. Für einen Moment hatte sie sich in Sicherheit gewiegt, seine Nähe war ihr angenehm gewesen, und sie hatte sich in dem flüchtigen Gefühl verloren, das Böse vergessen zu können. Mit einem Mal fühlte sie sich jedoch, als sei ihre Seele entblößt. Wieso ahnte er, dass sie ein Geheimnis barg? Ja, er hatte recht: An Severins Grab wäre sie nicht so leicht zu einer Lüge bereit – es sei denn, sie würde ihren toten Gatten damit schützen und die Erinnerung an den besten Freund, den sie je besessen hatte, dazu.
Sie rettete sich in vorgetäuschte Hilflosigkeit. »Ich verstehe nicht, was Ihr meint.«
Er wurde ungeduldig: »Sagt mir die Wahrheit. Vertraut mir, Meitingerin ... Christiane ... Es geht um Leben und Tod, nicht um die Rolle der naiven Witwe.«
Seine Worte waren wie eine Schlinge, die sich um ihren Hals zog. Was wusste er? Christiane war versucht, sich ihm anzuvertrauen, doch schließlich überwog ihre Vorsicht. Um Sebastian Rehms Andenken willen würde sie vorläufig nichts über die Fälschungen verlauten lassen. Sie musste herausfinden, was es damit auf sich hatte, bevor sie Marthas Mann posthum an den Pranger stellte. Ein Zittern durchlief ihre Glieder, als wollte ihr Körper ihr auf diese Weise mitteilen, dass sie viel zu schwach war, um den Weg zu beschreiten, den sie sich zu gehen vorgenommen hatte.
»Ich glaube, Ihr phantasiert, Herr Delius«, versetzte sie kühl und hielt ihm das Taschentuch hin. »Nehmt dies mit Dank zurück. Ich will derweil vergessen, dass Ihr mir zu nahe getreten seid.«
Statt nach dem Tüchlein zu greifen, umklammerte er ihr Handgelenk. »Ihr lauft in Euer Verderben, wenn Ihr Euch mir nicht anvertraut.«
Ein bitteres Lachen entrang sich ihrer Kehle. »Was macht das schon, nach allem, was geschehen ist?«
»Genau das möchte ich wissen: Was ist passiert?«
»Was?«
»Ja, was treibt Euch um? Was belastet Euch mehr als der Tod Eures Gatten?«
Konnte er in ihren Gedanken lesen wie in einem Buch? Die Frage drängte sich ihr auf, ob sie sich strafbar machte, wenn sie das Wissen um die Fälschungen für sich behielt? Sie wusste es nicht, und das machte ihre Situation nicht besser. Christiane versuchte seine Hand abzuschütteln, doch er hielt ihren Arm mit eiserner Härte umschlossen. So fühlte man sich wohl in Stahlfesseln, wenn man zur Folter geführt wurde. Ein Schauer rieselte über Christianes Rücken, sie fing an zu schwitzen.
»Ihr geht zu weit«, fuhr sie ihn an, zog und zerrte, um ihnabzuschütteln, was ihr jedoch nicht gelang. »Ich schreie um Hilfe, wenn Ihr mich nicht auf der Stelle loslasst.«
»Wie nanntet Ihr das Schauspiel des alten Meitinger? Ein schmieriges Theaterstück, nicht wahr? Was Ihr veranstaltet, ist nicht besser.«
Plötzlich sank seine Hand herab, und sie hatte Mühe, das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
»Ich will Euch helfen«, insistierte er. »Begreift Ihr das nicht? Oder fürchtet Ihr noch immer, wir würden den Worten des alten Meitinger Glauben schenken?«
Daran hatte sie nicht gedacht, sie nickte trotzdem.
»Würden mein Freund und ich Euch für schuldig halten, würdet Ihr nicht mehr wie ein wild gewordenes Huhn herumflattern können. Dann hätte Ditmold Euch einkerkern lassen, bevor Ihr auch nur einen Fuß zur Beerdigung aus dem Haus gesetzt hättet.«
»Woher soll ich die Gewissheit nehmen, dass Ihr die Wahrheit sprecht? Ihr könnt mir alles sagen und etwas anderes meinen. Vielleicht erwartet Ihr ja ein Geständnis, indem Ihr Euch in mein Vertrauen schleicht.«
Zu ihrer größten Überraschung erhellte sich seine angespannte Miene. »So ist es gut«, er schenkte ihr ein offenes Lächeln. »Ihr zeigt endlich wieder, wie geschliffen Euer Geist ist. Venezianisches Glas kann sich vor Euch verstecken, Christiane Meitinger, ... in jeder Hinsicht.«
»Das beantwortet meine Frage nicht«, zischte sie hinter zusammengebissenen Zähnen. Bloß dieses Lächeln nicht erwidern, fuhr es ihr durch den Kopf.
»Nein, natürlich nicht ... Niemand will Euch zu einem Geständnis zwingen. Weder mein Freund noch ich sind von der Inquisition. Ihr müsst auch nichts widerrufen, was Ihr einmal ...«
» Revoco! «, entfuhr es Christiane unvermittelt. Sie starrteDelius an, als sei er ein Geist. »Es war Sebastians letztes Wort ... und es stand irgendwo in diesem Manuskript ... ich weiß nicht, wo ... ich ...«, sie unterbrach sich
Weitere Kostenlose Bücher