Die Hüterin des Evangeliums
stolzierte sie zur Tür.
»Wo willst du hin?«, entfuhr es Martha. Kaum dass sie gesprochen hatte, wunderte sie sich über den Klang der eigenen Worte. Sie hatte sich diese Frage doch nur in Gedanken stellen und keinesfalls die Stimme erheben wollen. Sie hatte ja ohnehin nichts beizutragen zu diesem Gespräch.
»Ich werde Geld besorgen!«, verkündete Christiane, und Martha war sich sicher, ein leises Zittern vernommen zu haben. Ganz so arglos und bestimmt, wie sie tat, war Christiane offenbar nicht. Marthas Herz zog sich zusammen. Was würde nur aus ihr werden, wenn selbst Christiane aufgab?
Während ihre Cousine hoch aufgerichtet und stolz die Stube verließ und die beiden Männer ihr stumm nachsahen, ging Martha plötzlich die Überlegung durch den Kopf, dass Christiane Hilfe bei dem attraktiven Herrn Delius suchen könnte. Es wäre immerhin möglich, dass dieser interessiert daran war, der Druckerei Meitinger eine Teilhaberschaft anzutragen und damit die finanziellen Probleme fürs Erste zu beseitigen.
Martha hatte die Blicke bemerkt, die er Christiane zuwarf, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Sie hatte bislang keinen Gedanken daran verschwendet, aber es war gut möglich, dass Christiane ihm gefiel. Warum auch nicht? Sie war eine schöne Frau und Witwe noch dazu. Ärgerlicherweise spürte Martha einen kleinen Stich in ihrem Herzen, als sie darüber nachdachte, dass der Verleger aus Frankfurt Christiane den Hof machen könnte.
26
Noch auf der Treppe brachen die Dämme. Christiane ließ ihren mühsam zurückgehaltenen Tränen freien Lauf. Sie biss die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschluchzen, während sie Stufe um Stufe nach unten stolperte – auf der Flucht vor den Klagen ihres Schwiegervaters, seinen Anschuldigungen und der grausamen Realität: Severin hatte sie nicht nur zu einer schutzlosen Witwe gemacht, er hatte sie einer Situation ausgesetzt, der sie nicht gewachsen war. Er hatte sie bettelarm zurückgelassen und ihr damit auf gewisse Weise das Leben genommen.
Panisch machte sie im Geiste eine Bestandsaufnahme ihres Besitzes: Ihre Mitgift hatte sich in Grenzen gehalten, wie sie wohl wusste, aber einige Möbel gehörten ihr, etwas Leinenzeug, und sie besaß natürlich den Schmuck, den Severin ihr im Laufe der wenigen Monate ihrer Ehe geschenkt hatte, auch war noch ein Rest der hundert Gulden da, die ihr von Bernhard Ditmold ausgehändigt worden waren. Sie hatte davon die Beerdigung bezahlt und ihre Trauerkleidung. Sollte sie die Differenz an Titus abtreten oder damit hauszuhalten versuchen?
Auf der Straße empfing sie eine überraschend warme Sommerbrise, die ihr Gesicht sanft streichelte. Die Sonne gab ihr ein wenig Hoffnung zurück. Ein Spaziergang würde ihre Gedanken klären. Sie wusste zwar nicht, wo sie Geld auftreiben konnte, aber sie ahnte, dass ein paar Schritte hilfreich sein würden, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Sich die Tränen von den Wangen wischend, marschierte sie ohne Ziel drauflos. Einfach nur fort von Meitingers Haus, ihrem Heim, das sie als Gefängnis empfand, dessen Gitterstäbe Severins Schulden waren.
Christiane wanderte durch das Gewirr der Gassen in RichtungPerlach. Ihre Füße trugen sie wie von selbst, sie achtete kaum auf den Weg, war fast blind gegen ihre Umgebung, andere Passanten, Reiter, Sänften und Fuhrwerke auf der Straße sah sie kaum. Sie konzentrierte sich darauf, in sich hineinzuhorchen und ihre innere Stimme zu hören, die ihr eine Lösung anbot.
Eine Hand griff nach ihrem Arm. »So passt doch auf! Ihr rennt mir ja noch den Stand um«, schalt eine Männerstimme.
Wie aus einem Traum geweckt, starrte sie auf einen Fremden. Es war ein Mann fortgeschrittenen Alters, der eine gewisse Würde ausstrahlte, obwohl sein Talar ziemlich zerschlissen war und eindeutig die besten Tage hinter sich hatte. Er hielt sie durch seine Geste davon ab, kopflos in seine Verkaufsbude zu laufen und den Tisch umzuwerfen, auf dem er mit beachtlicher Kunstfertigkeit die verschiedensten Druckerzeugnisse aufgebaut hatte.
Neugierig betrachtete Christiane alte, abgegriffene Bücher, die der Buchführer wahrscheinlich zu einem geringen Preis anbot, wissenschaftliche Werke in kostbaren Ledereinbänden, schmale Folianten mit Ratschlägen für den Alltag und Unterhaltungsromane, deren Illustrationen im Sonnenlicht in leuchtenden Farben schimmerten. Daneben lagen Flugblätter, deren Titel das Wort »Reichstag« beinhalteten. Christiane nahm jedoch an, dass der Sensationswert
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