Die Hüterin des Evangeliums
seinen Sünden und einem frühen, qualvollen Tod durch eine großzügige Spende zu entfliehen? Dann musste es ihm weitaus schlechter gehen, als sie ahnen konnte.
»Es tut mir leid«, murmelte sie. »Ich wusste nicht, dass ...«
»Natürlich nicht. Es ist ein Geheimnis, das ich nicht mit vielen Leuten teile.« Sein Tonfall war wieder schmeichlerisch wie zuvor. Mit der freien Hand, die andere umklammerte noch immer den Kragen seines Mantels, fasste er wieder nach Christianes Fingern. »Glaub mir, meine Liebe, wenn ich in der Lage dazu wäre, würde ich die Druckerei schon allein deshalbübernehmen, um Euch an mich zu binden. So viel Schönheit bekommt man nicht alle Tage angeboten.«
Vor ihrem geistigen Auge tauchte der Ausschlag auf seiner Brust auf, und Christiane schluckte entschlossen den Würgereiz hinunter, der bei seiner Berührung in ihrer Kehle aufgestiegen war. »Ich suchte nur einen Rat«, erinnerte sie ihn und fügte ebenso trotzig wie gedankenlos hinzu: »Keinen Ehemann.«
Er lächelte milde und ließ ihre Hand los. »Ihr habt recht«, erwiderte er ruhig, »ich habe mich in meinen Phantasien verloren. Die Situation hat mich wohl etwas überfordert.«
Wie konnte ihn ihre Not so belasten, dass er deutlich mehr aus der Ruhe geriet als sie selbst? »Es scheint so«, meinte sie ungerührt.
Da hob er weinerlich an: »Meine Schaffenskraft hat stark unter dem Tod Sebastian Rehms gelitten. Seit dieser alte Freund nicht mehr unter uns weilt, habe ich keine Zeile mehr zu Papier gebracht. Ich bin sicher, Ihr könnt verstehen, was das für mich bedeutet.«
Das konnte sie nicht, aber sie schwieg. Sein Lebensstil erweckte nicht den Eindruck, als würde er so bald Not leiden und auf die Spenden des Almosenamts angewiesen sein. Ihre eigene Lage erschien ihr in einem erheblich dunkleren Licht. Während sie über die wirtschaftlichen Konsequenzen grübelte, dämmerte ihr jedoch langsam, welche Folgen Sebastians Ableben unter den gegebenen Umständen für den Dichter Imhoff haben mochte. Ein Schriftsteller, den die Muse nicht mehr küsste, würde sicher bald in tiefe Schwermut versinken. Worten keine Lebendigkeit mehr einhauchen zu können, wog für einen schöpferischen Geist sicher schwerer als jede andere Last. Sie hatte nie geahnt, dass die spirituelle Verbindung zwischen Sebastian und Georg so mächtig gewesen war, aber was spielte ihr Verständnis schon für eineRolle, angesichts dieses gebrochenen Mannes? Mitleid überflutete ihr Herz.
»Da komme ich zu Euch und bitte Euch um Hilfe, während Ihr selbst ...«, sie brach ab, war nicht in der Lage, ihre Gefühle auszudrücken ohne verletzend zu klingen.
»Ach, Liebste, belastet Euch nicht mit meinen Sorgen. Mir scheint, Ihr habt selbst genug davon. Wollt Ihr mir nicht in aller Ausführlichkeit berichten, was überhaupt geschehen ist? Es wäre gut, wenn ich mir ein Bild von der Sache machen könnte.«
Seine Stimmungsschwankungen irritierten sie. Eben war er noch hart und kaltherzig gewesen, nun die Liebenswürdigkeit selbst. Sie ergab sich aber seiner Freundlichkeit. Es tat wohl, mit jemandem zu reden.
»Wo soll ich anfangen?«, fragte sie. »Es ist so viel geschehen in den vergangenen Tagen ... genau genommen weiß ich selbst nicht, wie alles zusammengehört ...« Trotzdem begann sie mit ihrer Geschichte. Sie erzählte Imhoff von dem Besuch des Bibliothekars von Hallensleben, den Fälschungen und Titus’ überstürzter Abreise, dann setzte sie bei seiner Heimkehr an, dessen Zeuge der Dichter gewesen war, und sie sprach von der demütigenden Unterhaltung im Beisein des Zunftmeisters vor nicht einmal einer Stunde. Nur ihren Fund im Weinkeller ließ sie aus. Sie wusste selbst nicht, warum sie Imhoff die Pamphlete verschwieg, denn er zeigte sich als der verständnisvolle Zuhörer, den sie anzutreffen gehofft hatte. Schließlich verstummte sie, und es setzte für einige Herzschläge jenes von fast unnatürlicher Stille begleitete Schweigen ein wie zuvor.
Diesmal beendete er es jedoch nicht mit einem Lachen, sondern mit einem verbalen Paukenschlag: »Es ist eine schreckliche Vorstellung, aber nach Eurem Bericht bin ich mir sicher ... Ich glaube, meine Liebe, dass Titus der Mörder Eures Gemahls ist.«
Sie lauschte dem Hall seiner Stimme nach und hoffte, irgendetwas missverstanden zu haben. Doch der Dichter wiederholte oder korrigierte nichts.
»Natürlich seid Ihr schockiert«, konstatierte er, »das ist verständlich, aber ich rate Euch dringend, Euch mit der
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