Die Hüterin des Evangeliums
hingerichtet werden, wie es sich für einen Mörder gehörte. Doch seltsamerweise spürte sie keine Genugtuung in sich, keinen Hass auf den Greis, keinen Wunsch nach Rache oder Vergeltung, weil er ihr den Gatten genommen hatte. Einen Mann, der sie hoch verschuldet und unversorgt zurückgelassen hatte, der wohl ein Fälscher und Betrüger gewesen war und seinerseits eine Menge Schuld auf sich geladen hatte, die letztlich zu dieser Tat geführt hatte. War es daher so einfach, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden?
Bitterkeit stieg in ihr auf. Tatsächlich glaubte Christiane, eine gallige Flüssigkeit auf ihrer Zunge zu schmecken. Sie entzog Imhoff ihre Hand und richtete sich auf. »Es ist Zeit für mich. Ich muss gehen.«
»Ihr solltet den Reichserbmarschall verständigen«, insistierteer. »Je eher Titus dingfest gemacht wird, desto besser. Nicht auszudenken, wenn er Euch auch noch etwas antäte ...«
»Welche Rolle würde das denn jetzt noch spielen?«, fragte sie matt und wandte sich zum Gehen.
27
Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, erschien es Christiane, als hätte einen Herzschlag lang die Erde sich zu drehen aufgehört. Selbst die Luft schien stillzustehen. Die Welt hielt den Atem an, um sich im nächsten Moment mit einem Wolkenbruch aus der Bewegungslosigkeit zu befreien. Heftige Böen fegten durch die Gassen, Regen prasselte auf das Pflaster, weichte die Sandwege auf, ließ das Wasser durch die Leitung strömen und den Lech binnen kürzester Zeit zu einem wilden Fluss anschwellen. Wer sich noch auf der Straße befand, floh unter den Schutz eines Torbogens, und Christiane überlegte, ob sie klopfen und in Imhoffs Haus zurückgehen sollte.
Statt Unterschlupf zu suchen, zog sie jedoch den Kopf ein, schickte sich an, ihres Weges zu gehen – und prallte gegen eine dunkle Gestalt.
»Verzeihung.« Der Mann, von dessen Barett die Regentropfen auf einen schwarzen Talar perlten, trat beiseite.
Doch Christiane blieb ungeachtet des Unwetters stehen. Sie sah Pater Ehlert verblüfft an. »Was tut Ihr hier?«, fragte sie.
»Ich versuche, dem Wolkenbruch zu entkommen«, erwiderte er ungehalten und wischte sich mit dem Zipfel seines Ärmels über das feuchte Gesicht, was ein hoffnungsloses Unterfangen war, denn sein Mantel war durchnässt. »Ihr solltet dasselbe tun, Meitingerin. Dies ist kein Augenblick für Konversation. Lauft heim, so schnell Ihr könnt, bevor nochein Gewitter über uns hereinbricht.« Dann wandte er sich rasch ab.
Verwundert folgten Christianes Augen dem Priester. Sie sah ihn durch den Regenschleier an der Ecke in eine Seitengasse biegen, dann verlor er sich aus ihrem Blickfeld, war so schnell fort, wie er zuvor aufgetaucht war.
Ihre zufälligen Begegnungen mit dem Jesuiten häuften sich. Christiane war so verwundert darüber, dass sie für kurze Zeit nicht einmal mehr die Tropfen spürte, die der stark auffrischende Wind durch die Gassen trieb. Erst als der Regen mit Nadeln in ihr Gesicht stach und die Feuchtigkeit durch ihr Kleid in ihre Glieder kroch, raffte sie die Röcke, die klamm um ihre Beine schlugen, und stemmte sich gegen das Unwetter.
Bald sah sie nichts mehr, an ihren Wimpern klebten Tropfen, Wasser spritze auf, als ihre inzwischen durchweichten Schuhe in eine Pfütze traten. Ihre Schritte klatschten auf feuchtem Grund, das unaufhörliche Prasseln des Regens begleitete sie auf ihrem Weg.
Wie blind lief Christiane durch das enge Netz der Gassen und über die Plätze nach Hause. Dorthin, wo der Mörder ihres Gatten sie erwartete. Tränen strömten über Christianes Wangen und mischten sich mit den Fluten, die vom Himmel fielen. Aus irgendeinem Grunde fiel ihr ein, was Sebastian Rehm einst über die Sicht Martin Luthers auf die biblische Sintflut gesagt hatte: Es war die Strafe Gottes für die Sünden der Menschen. Das Unwetter hätte zu keinem besseren Zeitpunkt hereinbrechen können, dachte sie bitter.
Meitingers Haus lag still da und wirkte verlassener als die anderen Gebäude daneben, in deren Fenstern Lichter schimmerten. Als Christiane am Tor der Werkstatt vorbeilief, registrierte sie die ungewöhnliche Stille in der Druckerei. Sie hielt in ihren Schritten inne, lauschte, doch schien das Klappernder Pressen verstummt. Dabei war es noch nicht einmal später Nachmittag und deshalb noch nicht an der Zeit für Karl oder Anton, Feierabend zu machen. Eine unangenehme Erinnerung bemächtigte sich Christianes: Sie musste den Lehrling entlassen, der Junge wusste noch nicht,
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