Die Hüterin des Evangeliums
Wahrheit auseinanderzusetzen. Man weiß schließlich nie, zu welch schändlichen Taten ein verirrtes Greisenhirn fähig ist. Und ich darf Euch nur daran erinnern, dass ausgerechnet er es war, der Euch am Totenbett des armen Severin für dessen Tod verantwortlich machte.«
»Wie ...?« Christiane konnte kaum sprechen, ihr Hals fühlte sich rau an, die Zunge eigenartig pelzig. »Wie kommt Ihr dazu, dem Schwäher eine solche Schuld anzulasten? Ein Vater erschlägt doch seinen Sohn nicht!«
»Das tut er wohl, wenn er die Schande rächen will, die der Junge über die Familie brachte«, versetzte Georg Imhoff. Er legte eine Pause ein, dann fuhr er fort: »Es muss für den Alten schrecklich gewesen sein, zu erfahren, dass Severin mit seinem Druckersiegel Fälschungen herstellte. Also ist er der Spur gefolgt und hat Severin in der Posthalterei zu Auerbach angetroffen. Oder jedenfalls in der Nähe, sei es nun Zufall oder nicht. Es kam zum Streit – und die Folgen sind tragisch, aber wahr.«
Christianes Gedanken verloren sich in tiefdunkler Leere. Imhoffs Behauptung klang zu plausibel, um sie einfach von der Hand zu weisen. Es war die wahrscheinlichste aller Lösungen, und ihr fiel nichts ein, was sie dem entgegenzusetzen hatte. Dennoch hauchte sie in einem letzten Versuch, das Offensichtliche zu verdrängen: »Aber Titus war nicht in Auerbach, er war in Ulm und hat sich bei der Bank nach Severins Verbindlichkeiten erkundigt.«
»Seid Ihr sicher? Ich glaube kein Wort davon. Was der Alte Euch aufgetischt hat, ist eine Lüge. Woher will er etwa vonden Schulden gewusst haben, wenn nicht von Severin selbst? Außerdem sehe ich keinen Zusammenhang zwischen dem, was von Hallensleben herausgefunden hat, und der Filiale der Fugger-Bank zu Ulm. Titus’ Geschichte ergibt keinen Sinn.«
Er hatte recht. Dennoch war die Vorstellung, dass der Vater seinen Sohn erschlagen haben mochte, zu grausam, um sie widerspruchslos hinzunehmen. Der Mord an sich war schon schlimm genug, wenn dieser von einem namenlosen Räuber oder irgendeinem Verschwörer ausgeführt worden wäre. Das eigene Kind zu richten deutlich tragischer.
»Ich bin sicher nicht die geeignete Person, den Schwäher in Schutz zu nehmen, doch einen Mord traue ich ihm nicht zu. Sicher, er hat mir das Leben schwergemacht, aber deshalb ist er doch kein Mörder.«
»Das könnt Ihr gewiss nicht beurteilen. Wer weiß schon genau, wie das Ende der Welt aussehen wird? Die Apokalypse ist nah, und was könnte dies deutlicher machen als die Gestalt eines Vaters, der die Hand gegen seinen Sohn erhebt?«
Obwohl sie deutlichen Widerwillen spürte, versuchte sie sich bildlich vorzustellen, wie die unheilvolle Begegnung zwischen Titus und Severin ausgesehen haben mochte: Der Alte war viel schmächtiger als sein Sohn und deshalb körperlich der Unterlegene, aber Severin wäre niemals handgreiflich gegen seinen Vater geworden, nicht einmal, um sich zu verteidigen. Ohne Gegenwehr und mit einem geeigneten Gegenstand, etwa einem Ast, wäre es Titus wohl möglich gewesen, dem Jüngeren den Schädel einzuschlagen ... er brauchte nur seinen Stock zu heben ... Diese Erkenntnis verursachte ein Dröhnen in Christianes Schläfen, ihr Magen begann zu rebellieren.
Sie schüttelte den Kopf, als könne sie auf diese Weise den Schmerz und die bösen Gedanken vertreiben. »Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich ... Mein Gott«, brach es schließlichaus ihr heraus, »es ist unvorstellbar, dass der Schwäher diese Sünde auf sich geladen haben soll.«
»Natürlich können wir eine solche Handlungsweise nicht nachvollziehen«, stimmte Imhoff sanft zu und schloss seine Finger erneut um ihre eiskalte Hand. »Und doch geschah es sogar in der Bibel, dass ein Vater bereit war, seinen Sohn zu töten. Denkt nur an die Opferung des Isaak.«
Alles, was er sagte, klang vernünftig. Christiane wusste dem nichts entgegenzusetzen, auch wenn ihr einfiel, dass Abraham seinen Erstgeborenen letzten Endes doch nicht umgebracht hatte. Aber die Auslegung der biblische Legende war wahrscheinlich ebenso kompliziert wie die Gefühle des alten Mannes, der zum Mörder geworden war. Sie stellte sich die Frage, wieso Georg Imhoff eigentlich vom nahen Weltuntergang gesprochen hatte, aber sie verwarf diesen Gedanken angesichts einer viel drängenderen Überlegung: Sie musste den Rat oder zumindest Bernhard Ditmold benachrichtigen.
Titus Meitinger würde der Angeklagte eines Gerichtsverfahrens sein, er würde gefoltert und
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