Die Hüterin des Evangeliums
Meisters klatscht, kam niemand mehr mit einem Auftrag herein. Selbst der Buchführer hat sich nicht mehr gemeldet, dabei ist er in der Stadt. Ein Fluch liege über der Druckerei Meitinger, heißt es, und damit will niemand etwas zu tun haben.«
Ein Donner krachte, und der fast zeitgleich folgende Blitz warf unheimliches, blau schimmerndes Licht durch das Fenster. Christiane zuckte unwillkürlich zusammen. Konnte Imhoff recht haben mit seiner Warnung vor der Apokalypse? Zumindest ihre eigene Welt schien gerade zusammenzubrechen.
»Ich werde mit dem Schwäher sprechen«, entschied Christiane und wandte sich um.
Mit hängenden Schultern stieg sie die Treppe hinauf. Durch die offenstehende Tür entdeckte sie Martha und den kleinenJohannes in der Küche. Ihre Cousine hatte eine Talgkerze entzündet und saß über einem Korb mit Flickwäsche am Tisch, während sich das Kind unter größter Kraftanstrengung am Stuhlbein der Mutter hochzog und schließlich mit einem Jauchzer feststellte, dass es aus eigener Kraft stehen konnte. Unwillkürlich huschte ein Lächeln über Christianes Gesicht, der Anblick von Sebastians Sohn erwärmte ihr Herz. Nein, dachte sie, das Ende der Welt ist noch nicht gekommen. Solange Gott uns mit derartiger Fröhlichkeit beglückt, wird er uns das Leben nicht nehmen.
Johannes entdeckte seine Tante, bevor seine Mutter Christianes ansichtig wurde. »Tatata«, rief er strahlend, ließ die Stuhlbeine übermütig los, verlor prompt das Gleichgewicht und landete einen Atemzug später auf den Knien. Lautes Geschrei erhob sich aus Marthas Rocksaum.
»Ach, du kleiner Dummkopf«, tadelte sie liebevoll. Sie legte die Handarbeit beiseite, bückte sich und zog Johannes auf ihren Schoß. Über die Schulter warf sie Christiane einen halb gestrengen, halb besorgten Blick zu. »Du siehst aus, als wärst du unter einen Wasserfall gekommen ...«
»So könnte man meinen. Es regnet in Strömen.«
»Das höre ich«, erklärte Martha und nickte zum Fenster, wo das Unwetter an den Läden zerrte und gegen die Butzenscheiben prasselte. »Wechsle deine Kleider, bevor du noch krank wirst. Ich koche derweil Apfelwein auf. Du brauchst jetzt etwas Heißes.«
Endlose Müdigkeit überfiel Christiane. Der Gedanke, in ihre Schlafkammer zu gehen und sich unter ihrer Bettdecke zu verkriechen, besaß etwas Tröstliches. Die Nässe auf ihrer Haut ließ sie erzittern. Ein Schauer lief durch ihren Körper. Doch statt sich um ihr eigenes Wohlergehen zu kümmern, fragte sie: »Wo ist der alte Titus? Ich muss dringend mit ihm sprechen.«
»Nicht da. Er hat mit Meister Bäumler das Haus verlassen und ist noch nicht wieder zurück.«
Dann wird er bei diesem Regen irgendwo anders Unterschlupf suchen und vorläufig auch nicht wieder heimkommen, resümierte Christiane in Gedanken. Wie zur Bestätigung krachte ein Donner scheinbar direkt über dem Dach.
Ich sollte ins Bett gehen, dachte sie. Doch ihre Glieder versagten ihr den Dienst. Sie schien wie festgewurzelt an ihrem Platz im Türrahmen, müde lehnte sie sich gegen die Zarge.
Eine Weile lang schwiegen die beiden Cousinen. Martha beruhigte den kleinen Johannes mit einem Stückchen Stoff, an dem er begeistert zu nuckeln begann und Schmerz, Schreck und Enttäuschung schnell zu vergessen schien. Sie wiegte das Kind auf ihrem Schoß, sah zu Christiane hin und starrte doch ins Leere. Plötzlich platzte sie heraus: »Hast du etwas erreichen können?«
Verwirrt hob Christiane ihre schweren Lider. »Erreichen? Was erreichen?«
»Hast du nicht mit Herrn Delius gesprochen?« Martha bemerkte die steigende Verwunderung in Christianes Miene und erbleichte. »Warst du denn nicht bei ihm? Ich dachte«, fügte sie enttäuscht hinzu, »der Herr Verleger aus Frankfurt würde dir helfen.«
Christiane verstand noch immer nicht. Es dauerte, bis sie ihren ermatteten Geist so weit wieder unter Kontrolle hatte, dass sie die Zusammenhänge begriff. Hin und her gerissen zwischen aufsteigender Wut, weil ihr die Cousine unterstellte, dass sie sich einem Fremden andiente, Verständnis für Marthas Verzweiflung und Belustigung über ihre irrwitzige Annahme, ein anderer würde freiwillig und ohne Vorteilsnahme ihre Schuldenlast übernehmen, antwortete sie: »Ich kenne Herrn Delius kaum und denke nicht daran, ihn inmeine Angelegenheit zu ziehen. Wie kommst du nur auf einen solchen Unsinn?«
»Nun«, Martha kaute beleidigt an ihrer Unterlippe, »immerhin hat er dir schöne Augen gemacht ...«
»Ach was. Er ist
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