Die Hüterin des Evangeliums
viel zu vornehm, um einer Witwe nachzustellen. Was du immer siehst!«
»Außerdem ist er Verleger«, fuhr Martha trotzig fort, »und könnte Interesse daran haben, Teilhaber einer Druckerei zu werden. Meitingers Werkstatt ist ein guter Betrieb. Warum also sollte er ein Angebot ausschlagen?«
»Weil er in Frankfurt zu Hause ist und nicht in Augsburg«, versetzte Christiane verärgert.
Die beiden Frauen schwiegen, sahen sich in die Augen und funkelten sich streitsüchtig an.
Christiane konnte sich den Zorn, der sich ihrer bemächtigte, nicht erklären. Auf wen war sie eigentlich so wütend? Auf Martha, die einen nicht einmal unvernünftig zu nennenden Vorschlag machte? Auf sich selbst, weil sie nicht auf diesen Einfall gekommen war? Oder auf Wolfgang Delius, der die Unverschämtheit besitzen sollte, ihr schöne Augen zu machen, wovon sie jedoch noch nichts bemerkt hatte? Die Erinnerung an ihr unerfreuliches Gespräch mit Georg Imhoff stellte sich ein. Wer garantierte ihr, dass der Fremde freigebiger sein würde? Marthas Vorschlag war absolut indiskutabel, entschied sie bei sich.
»Ich gehe in meine Kammer und ruhe mich aus. Richte dem Schwäher bitte aus, dass ich ihn unbedingt sprechen möchte, wenn er nach Hause kommt.«
»Wo warst du denn dann?«, rief Martha ihrer Cousine nach, doch Christiane war bereits auf dem Weg nach oben und antwortete nicht.
Was hätte sie auch sagen sollen? Dass sie Georg Imhoff besucht und dort nichts anderes erreicht hatte, als den Mörderihres Gatten zu finden? Dass Imhoff die losen Fäden verknüpft und Titus in seinem Netz gefangen hatte? Wie würde Martha angesichts der Wahrheit reagieren? Wahrscheinlich würde sie sofort zum Rat oder zum Reichserbmarschall persönlich laufen und Anzeige erstatten. Doch wem half es eigentlich, wenn Christiane den alten Mann verriet? Die finanzielle Not würde nicht geringer – im Gegenteil. Mit Severins Vater im Haus bestand noch eine – wenn auch geringe – Möglichkeit, irgendwo einen Kredit zu erhalten; vielleicht könnte sie ihn dazu bringen, ihr einige Kenntnisse des Druckerhandwerks zu vermitteln, so dass sie eines Tages doch auf eigenen Beinen zu stehen in der Lage war.
Natürlich war es eine Frage des Rechts, Titus Meitinger dem Gericht auszuliefern. Doch was war schon gerecht in ihrem Leben? Bitterkeit überschwemmte Christiane wie zuvor der Regenschauer. Sie öffnete die Tür zu ihrem Schlafzimmer und verharrte einen Moment, den Blick wie gebannt auf das breite Bett gerichtet, das fast den ganzen Raum einnahm. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Severin und sich selbst wie auf einem Bild: der ältere Mann, der seine viel zu junge Frau in beständiger Eintönigkeit von hinten nahm und nicht das geringste Bedürfnis zu haben schien, ihr Lust zu bereiten oder auch nur Zärtlichkeit zu schenken. Er hatte nicht einmal registriert, dass er ihr Schmerzen zugefügt hatte.
Hatte er eigentlich jemals an sie gedacht? Er hatte ihr zahlreiche Geschenke gemacht, aber hatte er sie dadurch auch abgesichert? Ja, fuhr es Christiane plötzlich durch den Kopf, genau das hat er. Severin musste gewusst haben, dass seine Morgengaben nicht zur Rückzahlung der Schulden verwendet werden durften. Damit hatte er ihr ein gewisses Auskommen gesichert, das ihr wenigstens bis zu einer zweiten Heirat den Lebensunterhalt garantierte. Er hatte jedoch auf diese Weise den Verlust der Druckerei beschlossen – und Titus aufindirektem Wege in eine der Almosenanstalten geschickt. Eine Schande, befand Christiane, den eigenen Vater im Alter bitterster Armut auszuliefern. Und warum das Ganze?
Was war nur in Severin vorgegangen, dass er ungerecht gegen seinen eigenen Vater gehandelt hatte? Christiane hatte niemals auch nur das kleinste Gerücht gehört, das eine derartige Haltung rechtfertigte. Freilich hatte sie sich niemals für die Geschichte von Vater und Sohn näher interessiert, sondern die Vergangenheit bewusst ruhen lassen. Sie bedauerte ihr Versäumnis zutiefst, denn möglicherweise hätte sie unter anderen Umständen besser verstanden, warum Severin sterben musste.
Christiane trat ins Zimmer und zog sich langsam aus. Die feuchten Sachen ließ sie achtlos auf dem Boden liegen. Nackt kroch sie unter die Decke. Die Kanten eines Buches stachen ihr in die Schulter. Gähnend griff sie nach der Lektüre, die sie am Morgen auf Meitingers Kopfkissen gelegt hatte, um sie am Abend vor dem Schlafengehen wieder zur Hand zu nehmen. Sie betrachtete die mit Blattgold in feinstes
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