Die Hüterin des Schattenbergs
quälen und locken, denn es ist die dunkle Seite deiner Seele, nach der es sie verlangt. Sei stark, mein Kind. Du hast alles gelernt, was ich dir beibringen konnte, dein Herz ist rein. Ich bin sicher, dass du bestehen wirst, was immer auch kommen mag.«
»Was … was ist, wenn ich versage?« Jeminas Stimme war so dünn wie der Stoff ihres Gewandes. Für den Bruchteil eines A ugenblicks glaubte sie, einen Schatten über Eftas Gesicht huschen zu sehen. Die Hüterin holte tief Atem und sagte leise: »Dann wirst du eine von ihnen. Du wirst die Insel niemals wieder verlassen.«
»Aber …« Jemina fehlten die W orte. Fassungslos starrte sie Efta an. »Warum hast du mir das nicht vorher gesagt?«, fragte sie mit bebender Stimme.
»Weil kein W eg daran vorbeigeht.« Efta schaute Jemina traurig an. »Ich habe dich erwählt und an diesem T ag wurde dein Schicksal besiegelt. Du hast keine W ahl. Entweder folgst du mir in das A mt der Hüterin oder du gehörst ihnen.« Sie seufzte und verstärkte den Druck auf Jeminas Hände. »Du schaffst es. Ich weiß es«, sagte sie voller Zuversicht und fügte fast flüsternd hinzu: »Was auch geschieht, was immer dir hier oder in deinen T räumen auch begegnen mag, tue nie das, was die Bilder von dir verlangen, denn es sind die Nerbuks, die dich prüfen. Und wenn es dich noch so drängt. W iderstehe. Sei stark. Denn nur wer stark ist, kann eine Hüterin werden.«
»Ich werde dich nicht enttäuschen.« Jemina nickte ernst. »Ich werde stark sein.«
»Dann wünsche ich dir Glück und Erfolg.« Efta hauchte ihr einen Kuss auf jede W ange. »Wir sehen uns bei Sonnenaufgang. Ich weiß es!« Sie gab Jeminas Hände frei und trat einen Schritt zurück. Das Summen verstummte. Ein Hüter nach dem anderen trat vor, um sich von Jemina zu verabschieden. Dann gingen sie und nahmen das Licht mit sich fort.
Jemina war allein. Noch war es nicht ganz dunkel, aber das Licht schwand rasch. Nicht mehr lange und es würde finster sein.
Weil sie nicht wusste, was sie tun sollte, setzte Jemina sich ins feuchte Gras. Der dünne Stoff der Puera ließ sie jeden T autropfen auf der Haut spüren, und so breitete sie ihren dicht gewebten Umhang unter sich aus, um sich darauf zu setzen.
Es ist warm hier, dachte sie erstaunt, als sie den Umhang abgelegt hatte. Beim A ussteigen aus der Barke hatte sie in dem dünnen Kleid noch gefroren, aber nun fühlte sie sich selbst ohne den Umhang wohl.
Seltsam. V ielleicht wollten die Nerbuks, dass sie sich wohlfühlte. Oder sie froren selbst nicht gern.
Jemina gähnte. Die Stille auf der Insel war vollkommen. Obwohl sie aufgeregt und ein wenig ängstlich war, spürte sie, wie eine bleierne Müdigkeit nach ihr griff. Nicht lange und sie musste sich hinlegen. Ihre Lider wurden immer schwerer und bald war der W unsch, die A ugen nur für einen kurzen A ugenblick zu schließen, so übermächtig, dass sogar A ufregung und A ngst dahinter verblassten. Sie versuchte wach zu bleiben, aber ihre Gegenwehr wurde mit jedem A temzug schwächer. Sie fühlte sich geborgen und sicher im Schoß der Großen Mutter, die alles Leben behütete. Irgendwann gab sie ihren W iderstand auf und ließ sich treiben.
Im T raum sah sie Efta, die, begleitet von dem eigentümlichen Summgesang, durch den Nebel auf sie zuschwebte. Die Hüterin wirkte traurig, aber sie umarmte und küsste Jemina und hinterließ bei ihr ein Gefühl von Zuversicht, als sie davonschwebte. A uch die anderen Hüter kamen zu ihr. A lle schienen bedrückt zu sein. Ihre Gesichter sahen ernst und verschlossen aus. Sie lächelten nicht, aber sie umarmten und küssten Jemina, wie Efta es getan hatte und gingen nicht fort, ohne ihr ein Geschenk zu machen. Mut, Kraft, und W illensstärke ließen das Gefühl der Zuversicht weiter an Macht gewinnen; Selbstvertrauen, Hoffnung und das Empfinden grenzenloser Liebe gesellten sich dazu. Es war ein ernster, aber schöner T raum – und ein eigenartiger dazu, denn Jemina konnte die ganze Zeit ihren eigenen Gedanken folgen und glaubte, wach zu sein, obwohl sie nicht sprechen und sich nicht bewegen konnte. W ie ein Geist, gefangen in einem gelähmten Körper, konnte sie nur sehen, hören und fühlen und das empfangen, was ihr gegeben wurde.
Alles war richtig, alles war gut.
Nachdem der letzte Hüter sie freigab, fühlte sie sich stärker als je zuvor. Sollte sie irgendwann einmal daran gezweifelt haben, ob sie die Prüfung bestehen würde, so hatten die Hüter nun auch die letzte Unsicherheit
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