Die Hüterin des Schattenbergs
vielleicht hinterlassen hatten. A ls sie nichts fand, was auf mögliche Schrecknisse schließen ließ, wurde ihr leichter ums Herz.
Der Nachmittag verging mit gemeinsamen Gebeten und Meditationen, die Jemina Kraft spenden sollten. A ls sich der T ag dem Ende zuneigte, reichten die Frauen ihr eine dünne Suppe mit Kräutern – Jeminas letzte Mahlzeit bis zum nächsten Morgen, wie Mascha betonte. Dann führten sie Jemina zum See, wo die Männer bereits ein Boot ans Ufer gezogen hatten. Es war so groß, dass alle Hüter des Achten Zirkels darin Platz fanden. Jemina wurde ein Sitz in der Mitte zugewiesen.
Als das Boot ablegte, stimmten die Hüter einen sonoren Summton an, der wie ein Gesang langsam auf und ab schwoll und das Boot auf seinem W eg in den Nebel begleitete. Die Eleven blieben an Land zurück.
Langsam glitt das Boot durch den dichten Nebel. Burcan, der eine kräftige Statur besaß, saß am Heck und tauchte das Stechpaddel im T akt des monotonen Summgesangs in W asser. Niemand schien es eilig zu haben. Je länger die Fahrt dauerte, desto aufgeregter wurde Jemina. W o bringen sie mich hin?, dachte sie bei sich. W erden sie bei mir bleiben, oder mich allein lassen?
Allein …
Sie spürte, wie ihr die Kehle bei dem Gedanken eng wurde. Sie war noch nie lange allein gewesen. Bei T age nicht und schon gar nicht in der Nacht. Efta wusste das. Gewiss würde sie nicht zulassen, dass …
Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende geführt, als der Rumpf des Bootes mit einem leisen Zischen durch ein Feld von Gräsern glitt, die vom Grund des Sees bis zur W asseroberfläche aufragten. Sie mussten dem Ufer sehr nah sein. Kaum hatte Jemina das gedacht, da setzte die Barke auch schon auf sandigem Untergrund auf. Die beiden Hüter am Bug sprangen heraus und zogen das schwere Gefährt mithilfe eines Seils so weit auf das Ufer, dass Jemina herausklettern konnte, ohne nasse Füße zu bekommen.
Als alle an Land waren, entzündeten die Hüter die mitgebrachten Fackeln, nahmen Jemina in die Mitte und führten sie in einer schweigenden Prozession zu einer Lichtung im Herzen der Insel. Jemina schaute sich um, aber auch hier gab der dichte Nebel kaum etwas von der Umgebung preis.
»Wo sind wir?«, richtete sie leise eine Frage an Efta.
»Wir sind auf Doh-Jamal. Der Insel der W ahrheit«, gab Efta flüsternd A uskunft. »Hier wirst du heute Nacht deine Prüfung ablegen.«
»In der Nacht?« Jemina schluckte. »Allein?«
Efta nickte. »Allein.«
Jemina fröstelte. Nun erst verstand sie wirklich, was Galdez gemeint hatte, als er ihr den Unterschied zwischen dem leichten und dem schweren W eg zum Ziel erklärt hatte. »Hüter werden nur die Besten«, hatte er gesagt und wer zu den Besten gehören wollte, klagte nicht. So biss sie sich auf die Unterlippe, schluckte die W orte herunter, die ihr auf der Zunge lagen, und gab sich tapfer.
Die Hüter fassten sich an den Händen, bildeten einen Kreis, nahmen sie in die Mitte und stimmten erneut ein leises Summen an. Kurz darauf löste Efta sich aus dem Kreis, stellte sich vor Jemina und ergriff deren Hände.
»Meine T ochter«, sagte sie feierlich und voller Stolz. »Zehn Sommer lang habe ich dich in allem unterwiesen, was eine Hüterin erlernen muss. Zehn Sommer lang habe ich dich wie mein eigen Fleisch und Blut auf diesen T ag vorbereitet. Heute Nacht musst du beweisen, dass du würdig bist, das wichtige A mt einer Hüterin zu übernehmen, denn ich spüre meine Kräfte schwinden. Nicht mehr lange, und ich werde zu schwach sein, um die Magie des Schattenbergs aufrechtzuerhalten. Dann wirst du die W eihe der Magier empfangen und meinen Platz im Kreis der Hüter einnehmen.«
»Sag das nicht.« Die W orte machten Jemina traurig »Du bist noch nicht alt und voller Kraft. Ich will nicht daran denken, dass du eines T ages nicht mehr da sein könntest.«
»Es gibt nicht vieles, was ich dir über die Prüfung sagen kann«, fuhr Efta fort, ohne auf Jeminas W orte einzugehen. »Denn jeder von uns hat sie anders erlebt. Die Nerbuks, die Nebelgeister, sind es, die dich in der Nacht prüfen werden. Sie wurden von Orekh selbst geschaffen und leben seitdem auf dieser Insel. Hab keine Furcht, denn sie wollen dir nichts Böses. Sie werden entscheiden, welche A ufgaben sie dir stellen. W as immer es auch sein mag, es wird nicht leicht werden, meine T ochter, denn sie werden dich mit deinen schlimmsten A lbträumen und Ängsten konfrontieren. Sie werden dich in V ersuchung führen, dich betören,
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