Die Hüterin des Schattenbergs
vorbeireden würden.
»Dein Ehrentag sollte wirklich nicht mit so ernsten Gedanken beginnen, Jemina.« Es war Galdez, der antwortete, während er zu Jemina und Rik trat. »Verzeih, dass Rik dich belästigt hat. Er stellt immer alles infrage und kann sich nur schwer mit dem zufriedengeben, was ist.«
»Er hat mich nicht belästigt.« Jemina fing Riks Blick auf, lächelte und schaute zu dem Großmeister auf. »Im Gegenteil, es war eine interessante Unterhaltung.«
»Dann ist es ja gut.« Nun lächelte auch Galdez. »Heute ist der wichtigste T ag in deinem Leben. W ir alle wünschen uns, dass du ihn auch als den schönsten T ag in Erinnerung behältst.«
»Dann ist es nicht gefährlich?« Jemina konnte sich die Frage nicht verkneifen.
»Es ist, wie wenn du einen Berg besteigst«, sagte Galdez und setzte sich neben Jemina. »Gehst du den Pfad der W anderer hinauf, der sich sanft durch blühende W iesen zum Gipfel hinaufschlängelt, wirst du oben nicht das Gefühl haben, etwas geleistet zu haben. Kaum bist du wieder unten angekommen, hast du das Geschehen schon fast vergessen. Nimmst du aber den W eg über die Klamm, über Steilwände und gefährliche Grate, dann hast du Großes geleistet und wirst von oben voller Stolz nach unten blicken. Zeit deines Lebens wirst du dich daran erinnern, deinen eigenen W eg zum Gipfel gefunden zu haben.«
»Soll das heißen, dass ein Erfolg ohne Mühe nichts wert ist?«, fragte Jemina, während sie Rik einen Blick zuwarf.
»Es heißt, dass es die Gefahr ist, die uns prägt. W er immer nur den sicheren Pfad wählt, wird nie mutig werden, wer verzagt, das Ziel nicht erreichen. W ahre Größe erwächst aus der Fähigkeit, sich den W idrigkeiten des Lebens zu stellen. W er nur davonrennt, wird am Ende zugrunde gehen, ohne Spuren hinterlassen zu haben.«
»Das klingt ja alles sehr gut«, erwiderte Jemina gedehnt. »Aber was hat das mit meiner Prüfung zu tun?«
Galdez lachte und entzündete seine Pfeife an einem Stock, den er aus der Glut zog. »Es bedeutet, dass eine Prüfung, die einfach ist, keinen W ert hat. Je schwerer eine Prüfung ist, desto weniger Menschen sind in der Lage, sie zu bestehen.« Er nahm einen tiefen Zug, ließ den Rauch aus seinem Mund entweichen und fügte hinzu: »Hüter werden nur die Besten.«
Jemina erschrak. »Dann … dann ist es auch schon vorgekommen, dass ein Elev nicht bestanden hat?«, fragte sie.
»Auch das hat es schon gegeben.« Galdez nickte. »Nicht oft, aber es kommt vor.« Er lächelte und zwinkerte Jemina zu. »Du musst dich nicht sorgen«, sagte er voller Zuversicht. »Wenn Efta sagt, dass du bereit bist, dann bist du es auch.« Er klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. »Denk nicht zu viel nach, mein Kind«, sagte er väterlich. »Alles wird so kommen, wie es vorherbestimmt ist.« Mit diesen W orten erhob er sich und ging zum Fluss.
»Spricht er immer in Rätseln?« Jemina schaute dem Großmeister verwundert nach.
»In Rätseln?« Rik runzelte die Stirn. »Für seine V erhältnisse war das schon sehr direkt.«
»Dann werde ich ab jetzt nicht mehr über die Prüfung nachdenken.« Jemina lachte und zog ihr Reisebündel heran. »Ich habe Dörrfleisch und etwas T rockenobst«, sagte sie, während sie darin kramte. »Und du? V ielleicht können wir tauschen.«
Sie hatte Glück. Obwohl er ihr nicht verraten wollte, woher er es hatte, zog Rik frisches, duftendes Brot aus seinem Proviantbeutel, das er mit ihr teilte.
Allmählich erwachten auch die anderen, und schon bald war es mit der Ruhe im Lager vorbei. Jemina blieb nur wenig Zeit, nicht an die Prüfung zu denken, denn kaum, dass alle gegessen hatten, begannen die V orbereitungen mit einer rituellen W aschung.
In einer kleinen Bucht abseits des Lagers badeten die Hüterinnen Jemina im eisigen W asser des Nebelsees und rieben ihren Körper anschließend mit duftendem Öl ein, das sie über dem Feuer erwärmt hatten. Die langen braunen Haare wurden ihr, noch feucht, zu Zöpfen geflochten, zu einem kunstvollen Gebilde aufgesteckt und mit Blumen geschmückt. Zum Schluss überreichte Mascha Jemina die Puera – ein Kleid und einen Umhang aus weißem, fließendem Gewebe –, die alle angehenden Novizinnen bei der Prüfung tragen mussten. Jemina ließ sich beim A nkleiden helfen.
Langsam übertrug sich die feierliche Stimmung der Hüterinnen auch auf sie. Dennoch ertappte sie sich dabei, wie sie das Kleid heimlich nach Blutflecken absuchte, die die Prüfungen ihrer V orgängerinnen dort
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