Die Hüterin des Schattenbergs
Gestalt langsam zu verblassen.
Jemina war verwirrt.Verunsichert schaute sie um sich und stellte erleichtert fest, dass auch Efta und Corneus nur T äuschungen gewesen waren. Sie waren ebenso verschwunden wie das Blut am Boden und die Fackeln an den W änden. Die Höhle war dunkel und leer. Sie war allein.
Ein W indzug streifte ihre W ange wie ein kühler A tem und löschte das Feuer ihrer Fackel, die noch immer an der W and lehnte. Jemina erschrak und unterdrückte einen Schreckenslaut. Ganz still stand sie in der Dunkelheit. Unfähig sich zu bewegen oder auch nur einen Schritt zu tun, versuchte sie, nicht auf die wispernde Stimme der Furcht zu achten, die ihr zuflüsterte, dass sie sich falsch entschieden und schon bei der ersten Prüfung versagt hatte.
Die Ungewissheit zerrte an ihren Nerven. Was war wenn das Licht nicht zurückkehrte? Im Dunkeln würde sie niemals den W eg zurückfinden. Dann war sie verloren …
Jemina schluckte gegen die aufkommende A ngst an, die sich wie ein eiserner Ring um ihre Brust legte und ihr den A tem nahm. Ich habe richtig gehandelt. A lles wird gut, sprach sie sich Mut zu – und als wären die Gedanken ein Schlüssel, flammten jäh rauchlose Feuer in einem halben Dutzend Kohlebecken auf, die wie durch Zauberhand in einem weiten Halbkreis vor Jemina aufgestellt worden waren.
Die Flammen brachten das Licht in die Höhle zurück; Jemina entdeckte, dass sich noch mehr verändert hatte: Mitten im Raum stand ein mannshoher Gegenstand, der mit einem weißen T uch verhüllt war. Langsam ging sie darauf zu und betrachtete ihn von allen Seiten. W as immer sich unter dem T uch verbarg, war schlank und kaum mehr als armdick. Die vier wuchtigen runden Füße aus kunstvoll geschnitztem Eichenholz, die zu beiden Seiten unter dem T uch hervorschauten, ließen darauf schließen, dass der Gegenstand sehr schwer sein musste.
Was mochte das sein? Jemina legte die Stirn in Falten. Zweifellos war dies eine weitere Prüfung, aber eine, deren Regeln sich ihr nicht erschlossen. Sie war begierig zu erfahren, was sich unter dem T uch befand, zögerte aber, es anzuheben, weil sie fürchtete, die Prüfung dann nicht bestanden zu haben. A ndererseits konnte sich die Prüfung auch unter dem T uch befinden, dann wäre es ein Fehler, nicht nachzusehen.
Sei stark!, hatte Efta sie zum A bschied ermahnt und das bedeutete in diesem Fall wohl, den Gegenstand nicht anzurühren … oder?
Jemina seufzte. Sie wusste, dass sie eine Entscheidung fällen musste. Um Zeit zu gewinnen, suchte sie die Höhle nach etwas ab, das ihr einen Hinweis geben konnte. Doch vergeblich. A ußer ihr selbst und dem verhüllten Etwas befanden sich darin nur Staub, Steine und die flammenden Kohlebecken. Nachdem sie den Gegenstand einmal umrundet hatte, blieb sie erneut davor stehen. Die Lippen fest aufeinandergepresst, starrte sie das weiße T uch an, als könnte sie darauf einen Hinweis finden. Ein T eil von ihr wollte unbedingt wissen, was sich darunter verbarg, und je mehr Zeit verstrich, desto mächtiger wurde das Gefühl.
Und wenn ich das T uch nur ein ganz klein wenig anhebe?, überlegte sie. W enn ich nur einen winzigen Blick auf das »Darunter« erhasche? Der Gedanke war verlockend. Sie musste das T uch ja nicht ganz fortnehmen. Langsam, fast ehrfürchtig trat sie auf den Gegenstand zu und streckte die Hand nach dem T uch aus. A ls ihre Finger das Gewebe berührten, zog sie diese so hastig zurück, als hätte sie sich verbrannt.
»Tu es nicht«, wisperte eine Stimme in ihrem Inneren. »Das ist ein Fehler.«
»Unsinn, es ist ein Fehler, das Tuch nicht zu entfernen«, wisperte eine andere Stimme. »Du musst es tun. Sie erwarten es von dir.«
Jemina keuchte. Ihr Herz raste und ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. W as war nur los? Ihr ganzes Leben hatte sie sich auf ihren Instinkt verlassen können, aber jetzt versagte er.
Trotzdem musste etwas geschehen. Entweder kehrte sie diesem seltsamen Ding den Rücken oder … Jemina führte den Gedanken nicht zu Ende. T ief ins sich spürte sie, dass sie sich längst entschieden hatte. Sie atmete ein, griff nach dem T uch, schlug es zur Seite – und erstarrte.
Vor ihr stand eine junge Frau, mit kunstvoll aufgestecktem Haar, die ihr von der glänzenden Oberfläche eines großen, in Gold gerahmten Spiegels entgegenblickte. Das bin ja ich!
Für die Dauer eines A ugenblicks war sie wie erstarrt. Bisher hatte sie ihr A ntlitz immer nur in einem kleinen, runden, fast blinden Spiegel
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